14. November 1990

Die Räumung des zweiten Berliner Tuntenhauses

13. Nov. 2020 Dirk Ludigs
Bild: Michael Österreich
Tuntenidyll mit Pünktchen (li.) und Tilly

Vor 30 Jahren, im November 1990, wurden 13 besetzte Häuser in der Friedrichshainer Mainzer Straße gewaltvoll von der Polizei geräumt. Darunter auch das zweite Berliner Tuntenhaus. Dirk Ludigs blickt zurück auf die brutale Zerschlagung eines linken Traums

Das Ende begann kurz vorm Morgengrauen des 14. November. Über Nacht hatten Besetzer*innen und Unterstützende der Mainzer Straße noch die zwei Tage zuvor errichteten Barrikaden aufgestockt. Im Verlaufe des 13. November hatte die Berliner Polizei Verstärkung von 1.200 Beamten aus NRW und 300 aus Bayern erhalten, dazu Wasserwerfer, Hubschrauber, Tränengas und scharfe Munition.

Zwei Stunden Häuserkampf

Ab 6 Uhr erfolgte der Angriff von über 3.000 Polizisten auf die 13 besetzten Häuser. Räumpanzer machten sich an die Beseitigung der Barrikaden, Tränengas legte sich als dicker Nebel über den gesamten Häuserblock. Die rund 500 Besetzer*innen und mindestens ebenso viele Verteidiger*innen aus den anderen 120 in Ostberlin besetzten Häusern und Sympathisant*innen aus Kreuzberg hielten mit Pflastersteinen und Molotowcocktails dagegen.

„Fast alle Tunten sind bis zum Schluss geblieben“, erinnert sich der ehemalige Tuntenhausbewohner Bastian Krondorfer an die Situation vor 30 Jahren. Bis zuletzt hatten alle darauf gehofft, dass es noch zu einer Verhandlungslösung mit dem rot-grünen Senat kommen könnte. Eine krasse Fehleinschätzung.

Nach rund zwei Stunden Häuserkampf gelang es Spezialkräften des SEK die Dächer der Mainzer zu besetzen. Sie begannen sich abzuseilen und gelangten durch die Fenster in die Häuser. „Im Tuntenhaus gab es eine Bibliothek für DDR-Literatur, dort saßen wir mit der Verhandlungsgruppe, alles in allem vielleicht 50 Leute, viele aus dem Tuntenhaus, aber auch Leute aus der Bürgerbewegung, Grüne, die saßen alle mit uns da, und das hat uns vor dem Schlimmsten bewahrt.“ Die Parlamentarier durften gehen, die 30 Tunten wurden in Wannen verfrachtet, verbrachten einen halben Tag auf der Friesenwache und wurden dann weggeschickt. „Das war das Ende. Wir hatten mit dem Schlimmsten gerechnet, Anzeigen wegen Landfriedensbruchs und Paragraf 129a, aber nichts passierte.“

Bild: Holger Herschel
Foto: Mainzer Straße, 1990, aus dem Buch: „Traum und Trauma – Die Besetzung und Räumung der Mainzer Straße 1990 in Ost-Berlin“

Die Seele der Mainzer Straße

Angefangen hatte die Geschichte des zweiten Berliner Tuntenhauses im Frühjahr 1990. In Kreuzbergs autonomer Szene kursierte eine Liste leer stehender Häuser in Ostberlin, die von der Umweltbibliothek, einem Zentrum der DDR-Opposition, zusammengestellt worden war. Darunter ein ganzer Straßenblock in der Mainzer Straße in Friedrichshain.

Schnell entstand im Umfeld des Kreuzberger Café Anal die Idee, in der Mainzer mit einem eigenen Tuntenhaus vertreten zu sein. Mit viel Geheimniskrämerei wurden im Anal und im SchwuZ die ersten Besetzer rekrutiert. Der Name des Hauses war eine Verbeugung vor dem ersten Berliner Tuntenhaus (1981–83), aber auch eine Kampfansage an die bürgerliche Schwulenszene und an den patriarchalen Machismo linker Straßenkämpfer. Am Abend des 1. Mai überquerten die ersten Besetzer den Grenzübergang Oberbaumbrücke.

Schnell entwickelte sich das Tuntenhaus zur Seele der ganzen Mainzer Straße. Als eines der ersten Häuser war die Nummer 4 im bewohnbaren Zustand. Die Zahl der Besetzer stieg auf rund 30. Mit Flyern rekrutierten sie in der DDR-Schwulendisko Busche auch ein paar Ostdeutsche. „Das waren Inge, Nancy, Margot und Birk, die haben das Tuntenhaus schon stark mitgeprägt, denn die waren stur und bestanden darauf, sich von uns nicht unterbuttern zu lassen.“

Pepsi Boston gehörte zu den Dauergästen

Um die „Kiezhomos“ anzulocken, eröffneten die Tunten in der Mainzer 5 eine schwule Bar, die Forelle Blau. Statt linkem Punk und Hardcore liefen dort House-Musik und die ersten Tracks der beginnenden Techno-Ära.

Fast jeder Abend in der Forelle Blau endete mit Marlene Dietrich oder Ingrid Cavens „Die großen weißen Vögel“, ein Lied vom Tod eines Matrosen. Das war eine Hommage an die Tatsache, dass die Aids-Krise auch am Tuntenhaus nicht vorbeiging.

Die später an den Folgen ihrer HIV-Infektion verstorbene Pepsi Boston gehörte zu den Dauergästen im Tuntenhaus. Die 1993 verstorbene Melitta Sundström sang auf einem Hoffest am Vorabend des CSD vor 300 Gästen. Aus New York kamen die Hot Peaches, um aufzutreten. Die Filmemacherin Juliet Bashore drehte die Dokumentation „The Battle of Tuntenhaus“ für den britischen Sender Channel 4, die heute noch auf YouTube zu sehen ist. In der Bibliothek las Ronald M. Schernikau.

Ein Sommer der Anarchie

In den anderen der zwölf Häuser entstanden unter anderem eine Volxküche, ein – leider sehr schlecht dokumentiertes – Frauen- und Lesbencafé, ein Spätkauf, der viel für die Akzeptanz durch die Nachbarschaft beitrug, und ein Theater. Vor dem Hintergrund der sterbenden DDR erblühte in dem Häuserblock zwischen Frankfurter Allee und Boxhagener Straße ein Sommer der Anarchie, eine quicklebendige konkrete Utopie einer Welt ohne staatliche Gewalt und ohne Kapitalismus, wie es sie vorher und nachher in Berlin nicht mehr gegeben hat.

„In unserer einzigen Küche im dritten Stock war Dauerplenum, doch die Diskussionen waren fruchtbar und inspirierend und wir planten viele Projekte“, erinnert sich Basti an den Alltag im Tuntenhaus. Die Tunten organisierten eine gemeinsame Fahrt ins KZ Sachsenhausen. Auch die Verhandlungen mit der Wohnungsverwaltung KWV und dem Ostberliner Magistrat wurden am WG-Tisch besprochen und die Verteidigung der Häuser organisiert. Einen Angriff der Nazis aus der Lichtenberger Weitlingstraße auf die Mainzer wehrten die Besetzer*innen so erfolgreich ab, dass er in der ganzen Zeit der einzige blieb.

Über den ganzen Sommer zogen sich die Verhandlungen mit dem Ostberliner Magistrat, um die Mainzer Straße zusammen mit den anderen 120 besetzten Häusern Ostberlins zu legalisieren. Die Linie der Besetzenden hieß: entweder alle oder keine. „Dabei konnten wir zusehen, wie der Osten nach und nach vom Westen übernommen wurde“, erzählt Basti, „ab dem Spätsommer saßen dann plötzlich die Senatsvertreter aus Westberlin mit am Tisch und spätestens nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober gab es kein ernsthaftes Interesse mehr an einer Lösung.“

Aufarbeitung der Geschichte

Der Rest ist Geschichte. Nach der Räumung blieben die Tuntenhaus-Bewohner noch zwei Wochen zusammen im Keller der Reichenberger 129, traumatisiert von drei Tagen Bürgerkrieg, in Decken und Schlafsäcke gehüllt, verzweifelt. Erst danach zerstreuten sie sich in alle Winde. Viele zogen anschließend in die Kastanienallee 86, um dort das dritte Tuntenhaus zu gründen, das bis heute existiert.

Erst 30 Jahre nach der Räumung hat eine ernsthafte Aufarbeitung der Geschichte begonnen. Gerade ist das Buch „Traum und Trauma“ über die Mainzer Straße erschienen. Ein „Festkomitee 3.000 Jahre Tuntenhaus“ hat sich gegründet, ein Buch übers Tuntenhaus ist in Arbeit.

Auch die heutigen Bewohner*innen des dritten Tuntenhauses in der Kastanienallee beginnen sich verstärkt für die Geschichte der Mainzer Straße zu interessieren und stellen Fragen aus heutiger Sicht: Wie queer war das Tuntenhaus, wie intersektional waren die politischen Debatten? Was bleibt von diesem kurzen Sommer der Utopien, was lehrt uns diese Zeit?

Die Antworten darauf kann vielleicht eine Ausstellung geben, die für 2021 geplant ist und an der das Schwule Museum großes Interesse zeigt. Für Basti ist klar, „mit der Räumung der Mainzer Straße wurde der klassischen radikalen Linken Westdeutschlands, deren Geschichte 1968 begann, mit militärischen Mitteln das Rückgrat gebrochen. Der Staat hatte seine Übermacht demonstriert. Von dieser Niederlage haben wir uns nie wieder ganz erholt.“

Film: Battle of Tuntenhaus, Juliet Bashore 1991 für Channel 4, im Netz: queerzone3000.net/battle-of-tuntenhaus

Bücher: Christine Bartlitz u. a. (Hg.): „Traum und Trauma – Die Besetzung und Räumung der Mainzer Straße 1990 in Ost-Berlin“, Ch. Links Verlag, 144 Seiten, 20 Euro

„Tuntenhaus – Ein Album von Stéphane Flesch“, 282 Seiten, Veröffentlichung geplant parallel zu den Ausstellungen 20

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