Debatte

Label „nicht binär“: Trend oder queere Tradition?

26. Juni 2023 Muri Darida
Bild: Canva
Eine Person mit der nicht binären Pride-Flagge

Nicht binäre Identitäten waren schon immer Teil der LGBTIQ*-Geschichte. Trotzdem sorgt kaum ein Begriff für so viele Diskussionen wie „nicht binär“. Für viele jüngere Menschen ist er gelebte Selbstverständlichkeit, für einige ältere LGBTIQ* und die Mehrheitsgesellschaft diffuse Bedrohung oder unnötiger Egotrip einer pronomenfixierten Gen Z. SIEGESSÄULE-Autor*in Muri Darida mit einer persönlichen Annäherung an die Debatte

Kesse Väter, warme Brüder, Tunten, Butches, Gender-Bender – es gibt bereits so viele schnieke Wörter für das, was queere Menschen sind. Jetzt gibt es auch noch ein neues, das beschreibt, was wir nicht sind: nicht binär. Seit einigen Jahren benennen immer mehr Menschen selbstbewusst und ohne ein eingeschobenes „eigentlich“, weder Mann noch Frau zu sein. Und fordern Rücksichtnahme, auch so angesprochen und behandelt zu werden.

Nicht binär zu sein bedeutet, dass ein Mensch dem binären Geschlechtsmodell aus Mann und Frau nicht entspricht und wahrscheinlich eine Diskrepanz zwischen der geschlechtlichen Selbstwahrnehmung und der Reaktion von außen erlebt. Häufig, nicht immer, ist diese Unstimmigkeit auch in Bezug auf körperliche Merkmale spürbar. Manche nicht binäre Personen erleben Dysphorie, also ein Unbehagen oder Leid, wie der eigene Körper aussieht oder sich anfühlt. Andere nicht binäre Personen verspüren keinen Druck, vergeschlechtlichte Teile ihres Körpers – etwa Brüste, Körperbehaarung oder Stimme – zu kaschieren oder zu modifizieren.

Manche sind nicht binär und trans, so wie ich. Ich habe medizinische Eingriffe wie Hormontherapie und OPs in Anspruch genommen, um die Harmonie zwischen meinem Körper und meinem Sein zu vergrößern. Mein Körper weist also Merkmale auf, die traditionell „männlich“ interpretiert werden, und solche, die „weiblich“ genannt werden.

Nicht beschreibbare Wahrheit

Sehr vielen nicht binären Personen sieht man ihre Nichtbinarität zunächst nicht an. Die Zuordnungsaufgaben wie in der Schule funktionieren nicht: Die Linie führt nicht automatisch von der gewölbten Brust zur Frau oder vom knubbeligen Adamsapfel zum Mann. Der Begriff nicht binär ist ausgesprochen breit gehalten und bietet Raum für eine Vielzahl von Erfahrungen und Bedürfnissen. Um bei der Analogie aus der Informatik zu bleiben: nicht null und nicht eins, sondern eine andere Ziffer oder Kombination.

„Nicht binäre Menschen sind nicht Mann und nicht Frau, sondern irgendeine andere Konstellation des Fühlens, Verhaltens und Aussehens.“

Übersetzt heißt das, nicht binäre Menschen sind nicht Mann und nicht Frau, sondern irgendeine andere Konstellation des Fühlens, Verhaltens und Aussehens. Dabei geht es in vielen Fällen und so auch in meinem weniger um Rollen, sondern eher um eine darunter liegende, nicht beschreibbare Wahrheit. Ich weiß, dass es Frauen gibt, die gerne Holz hacken, Krawatten tragen und Frauen (oder Männer) begehren. Dass ein Mann auch mit einer Vorliebe für Hundebabys, Tüll und die Hüftknochen anderer Männer in seinen Händen weiter Mann sein kann.

Deshalb hege ich großes Mitgefühl für das Unverständnis in den Augen der vorherigen Generationen von LGBTIQ*, die nicht mitkommen, wo der neue Dreh an dem Begriff ist. Schließlich unterwandern Tunten und Butches seit Jahrzehnten Geschlechtergrenzen. In Berlin sind und waren es Persönlichkeiten wie Mahide Lein, Fatma Souad, Birgit Bosold, BeV StroganoV und İpek İpekçioglu, die die Rahmenlinien von Geschlecht und Erwartung dehnen, stretchen und sprengen und dafür keine einheitlichen Begriffe verwenden. Doch auch schon lange vorher gab es Menschen, die sich weder entsprechend ihrem zugewiesenen noch vollständig dem sogenannten Gegengeschlecht gekleidet, verhalten oder verstanden haben.

Nichtbinarität wird nicht erkannt

Unerfüllbare Geschlechterrollen können sicherlich für manche Menschen ein Ansporn sein, das Label „nicht binär“ anzunehmen. Erfolgversprechend ist das vermutlich nicht. Denn Nichtbinarität wird an den meisten Stellen des Alltags ohnehin nicht anerkannt – in medizinischen, juristischen, gesellschaftlichen Kontexten wird ein Outing als nicht binär in der Regel ignoriert, belächelt oder als vorübergehend abgetan. In Sophie Rauschers und Gen Eickers‘ Podcast „trans sein“ erklären die beiden Tunten Ruco laPesto und Brigitte Oytoy das Konzept vom Tuntesein so: „Es gibt keine Aussicht auf Erfolg.“ Man kann es nicht richtig machen. Ähnliches gilt für nicht binäre Menschen. Wo also liegt die Notwendigkeit für einen neuen Begriff? Das Unbehagen der Geschlechter begann nicht mit Judith Butler, sondern existiert, seit es queere Menschen gibt.

„Christliche, weiße Europäer*innen waren diejenigen, die ihre unflexiblen Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit mit Gewalt in andere Länder und Gesellschaften importierten.“

Für ein vollständigeres Verständnis von nicht binären oder geschlechtlich unkonformen Identitäten als fester Teil der LGBTIQ*-Geschichte, lohnt es sich, auch auf die Zeit vor Stonewall zu schauen: Präkoloniale Gesellschaften aller Kontinente erkannten und integrierten geschlechtliche Diversität mit einer Selbstverständlichkeit in ihr Zusammenleben, dass weiße Kolonisator*innen sie mit besonderer Brutalität und bis heute wirkenden Gesetzen zu brechen versuchten. Die Anti-LGBTIQ*-Gesetze in Ländern wie Indonesien und Uganda sind nur zwei Beispiele. Christliche, weiße Europäer*innen waren diejenigen, die ihre unflexiblen Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit mit Gewalt in die Gesellschaften und Gesetzbücher anderer Länder und Gesellschaften importierten. So etwa die Niederländer im heutigen Indonesien und in Uganda die Briten.

Aber auch in der westeuropäischen Geschichte finden sich zuhauf Beispiele von Personen, die sich nicht ihrem zugewiesenen Geschlecht entsprechend verhalten und gekleidet haben: Jeanne d’Arc ritt nicht im Korsett durch den Hundertjährigen Krieg, sondern in Rüstung. Anastasius Rosenstengel, getauft als Catharina Margaretha Linck, hat sich bereits im 18. Jahrhundert selbst eine Penisprothese aus Schweinsdarm gebastelt und umgeschnallt, mit der er, sie oder dey laut der Überlieferung sehr überzeugend Sex gehabt haben soll. Wie d’Arc wurde Rosenstengel exekutiert, allerdings knapp 300 Jahre später. Die Schriftsteller(*)innen Adele Schopenhauer und Annemarie Schwarzenbach dachten in den darauffolgenden Jahrhunderten in ihren Briefen und Texten über ihren Platz im Geschlecht nach. Chava Zloczower aka Eve Addams wurde vor ihrer Ermordung in Ausschwitz als „Queen of Third Sex“ gehandelt, wobei „das dritte Geschlecht“ im 20. Jahrhundert noch eine beliebte Beschreibung für Schwule und Lesben, aber auch für alle anderen Menschen in queeren Konstellationen war.

Selbst dem deutschesten aller deutschen Komponisten, Richard Wagner, war es im Übrigen nicht möglich, seine antisemitisch gesalbten Gesamtkunstwerke zu komponieren, ohne sich dafür in lila Seidenkleider zu hüllen. König Ludwig aus Bayern fand’s gut. Das war ungefähr zur selben Zeit, in der ein Gay Boy aus Ungarn-Österreich namens Karl Maria Kertbény den Begriff „homosexuell“ erfand – und zwar genau 100 Jahre vor Stonewall. Der Ausdruck wurde laut Dokumenten in der Medizin heftig diskutiert. Eventuell wurden sogar Veranstaltungen dazu boykottiert, wer weiß.

Die Älteren konnten vermutlich nicht fassen, dass die Jüngeren so ein unnötiges Wort benutzen müssen für etwas, das man „schon immer“ anders genannt hat. Die Jüngeren waren womöglich sprachlos, dass die Älteren nicht von heute auf morgen eine komplett neue, unglaublich breite, aber dabei sehr spezifische Definition übernehmen wollten. Also in etwa so wie heute.

Gefahr oder Potenzial zum Unpolitischen

Weil unsere Existenz so lange und effektiv verschwiegen wurde, ist die queere Moderne sprachlich extrem kurz. Begriffe wie „schwul“ und „lesbisch“ sind selbst relativ neu, „bi“ ist noch neuer, „trans*“ am neusten. Nicht binär ist eines der allerneusten Labels und hat seinen Ursprung in einer globalisierten und digitalisierten Welt. Anders als das Konzept der deutschen „Tunte“, „lubunya“ im Türkischen oder „mariquita“ im Spanischen subsumiert der Begriff „nicht binär“ global sämtliche Geschlechter und politischen Selbstverortungen abseits der Unterteilung in männlich und weiblich. Seine Breite macht ihn inklusiv, aber auch schwammig, und birgt die Gefahr – oder das Potenzial, je nachdem, worauf eins steht – zum Unpolitischen.

„Seine Breite macht den Begriff 'nicht binär' inklusiv, aber auch schwammig, und birgt die Gefahr – oder das Potenzial – zum Unpolitischen.“

Ideologische, soziale oder ästhetische Hürden bringt der Begriff „nicht binär“ nicht mit. Anders als die Konzepte von „genderqueer“, „genderfuck“ oder „genderfluid“ trägt er nicht mal seinen Kontext im Namen. Wie ein riesiger Schirm spannt sich das Label über verschiedene politische Spektren: Ich kann als nicht binäre Person mit Kleidung, Make-up, Hormon- und OP-Behandlungen, die für cis Augen keinerlei Sinn ergeben, einen riesengroßen Fick auf das binäre System geben und extrem irritieren. Ich kann mich aber auch komplett normativ aussehend hinter einem iMac in einem Start-up in Mitte krümmen und mein Unbehagen mit der vergeschlechtlichten Welt da draußen still in meinem Inneren erdulden, ohne dass es irgendjemand merkt.

Begriff ohne Kawumms

Ich vermute, das ist der Aspekt, der Polittunten und organisierte Butch-Lesben irritiert. Das Wort hat im Vergleich zu anderen aus der queeren Geschichte recht wenig Kawumms. Ähnlich wie der Begriff „homosexuell“ vor 150 Jahren kommt der Ausdruck aus der sogaynannten Community selbst und wurde nicht erst aus der Dominanzgesellschaft übernommen und umgedeutet. Dass sich mittlerweile rechte Kolumnisten unsere Begriffe aneignen und sich darüber lustig machen, ist ein merkwürdiger, aber bemerkenswerter Fortschritt.

Die Nonchalance, mit der immer mehr Menschen heute das Label „nicht binär“ nutzen, musste zweifelsohne vorher erkämpft werden. Von den Tunten und Butches, den trans Frauen und Crossdressern, deren Sprache und Ästhetik und vor allem deren Fuck-you-Attitüde, deren Kämpfe gegen diskriminierende Gesetze, deren Solidarität untereinander in der Aids-Krise, deren Gestreite, Geschangel und Geknutsche überhaupt erst den Raum für Leute wie mich geschaffen hat. Thanks, Daddy!

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