Kommentar

Gegen einen neuen Rechtspopulismus!

9. Nov. 2015
Stephanie Kuhnen © Martin Pelzer

Die Pogromnacht jährt sich heute zum 77. Mal. SIEGESSÄULE-Autorin Stephanie Kuhnen klärt in ihrem Kommentar, was das mit LGBT-Geschichte und dem zunehmenden Rechtsruck in Deutschland zu tun hat

Heute jähren sich die antisemitischen Novemberpogrome der NS-Diktatur zum 77. Mal. Im damaligen Deutschen Reich zerstörten Nazis und „besorgte Bürger“ die Lebensgrundlagen jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger: religiöse Zentren und Synagogen wurden angezündet, Geschäfte geplündert, über 400 Menschen wurden öffentlich in den Tagen um die „Reichspogromnacht“ ermordet oder in den Selbstmord schikaniert. Bereits einen Tag später begann die systematische Vernichtung jüdischer Menschen und ihrer Kultur. Was hat das mit LGBT-Geschichte zu tun? Oder, um es wie die heutigen Rechtspopulisten zu formulieren: was hat uns das heute noch zu interessieren?

Die Propaganda der Nazis „verkaufte“ der eigenen Bevölkerung und dem entsetzten Ausland diese generalstabsmäßig organisierte Welle der Gewalt als eine „spontane Entladung des Volkszorns“, angeblich eine Reaktion auf die Ermordung des natürlich nicht offen schwul lebenden Diplomaten Ernst vom Rath durch den jüdischen, schwulen Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in Paris. Grynszpan gab später in einer Vernehmung an, beide Männer hätten sich vorher in einer Homosexuellen-Kneipe kennengelernt. Die tatsächlichen Gründe für den Tod vom Raths wurden niemals eindeutig geklärt. Warum sollten sie auch, die Nazis hatten einen geschickten Winkelzug gefunden, um die Legende vom sich gegen „die Juden“ wehrenden „deutschen Volk“ zu stricken und den seit ihrer Machtergreifung durch Gesetzesänderungen, Berufsverbote, Stimmungsmache, Meldepflichten und Logistik vorbereiteten Holocaust umzusetzen.

Auch Lesben standen auf allen Seiten des Systems. Dass die homosexuelle Geschichte der Verfolgung, aber auch der Mittäterschaft an den Nazi-Verbrechen eine vorwiegend schwule ist, ergibt sich aus dem massivem Forschungsrückstand aus lesbischer Perspektive. Dabei ist sie wichtiger denn je. Derzeit arbeitet der Geschichtsverein „Curriculum Vitae“ an der Biografie von Friederike Wieking, der ranghöchsten Kriminalbeamtin der NS-Diktatur, die ab 1939 Leiterin des Jugend-KZs Moringen und Uckermark mitverantwortlich für die Verbrechen an tausenden von, angeblich „sittlich verwahrlosten“ jungen Frauen und Männern war. Noch 1958, kurz vor ihrem Tod, konnte sie ein Buch mit dem Titel „Die Entwicklung der weiblichen Kriminalpolizei in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart“ veröffentlichen. Mit ihrer Partnerin, Hildburg Zeitschel, die als zweifelhafte „Sozialarbeiterin“ in der NS-Diktatur eine regimekonforme Karriere machte, lebte sie unbehelligt zusammen. Erwiesen ist aber auch, dass Lesben aufgrund ihrer Sexualität im KZ ermordet wurden: Am 16. November 2015 wird in Berlin der erste „lesbische“ Stolperstein zum Gedenken an die Berliner Straßenbahnschaffnerin Elli Smula verlegt, die 1940 als „Lesbierin“ denunziert und in das KZ Ravensbrück deportiert wurde, wo sie 1943 starb.

Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht, aber Ungerechtigkeit und Gewalt setzen sich fort, wenn ihre Ursachen nicht verändert werden: strukturell und personell. Ein Blick ins Heute lässt erschrecken. Erst vor zwei Tagen marschierten 5.000 Menschen unter der Führung einer rechtspopulistischen Partei, die in sich zwar homophob und antifeministisch ist, aber eine eigene Gruppe „Homosexuelle in der AfD“ unterhält und es immerhin schon zu einer Transfrau in einem Ortsvorstand gebracht hat, durch Berlin, rassistische Ressentiments aus Sorge um die eigene „deutsche und christliche Kultur“ schürend. In den sozialen Medien gedachten zahlreiche Schwule der Ermordungen des Rassisten und neuerdings „Multikultikritiker“ genannten Filmemachers Theo van Gogh am 2. November 2004, der von einem islamischen Fundamentalisten erschossen wurde und stilisierten ihn und den völlig in seinem Hass auf Schwule, Lesben und Moslems eskalierten Autoren Akif Pirincci zu Vertretern der Meinungsfreiheit. Seit Jahren arbeitet die lesbische Publizistin Alice Schwarzer im Namen der Frauenrechte nach weißer, bürgerlicher Definition an einem Feindbild: „der Islam“.

Was hier entsteht, ist ein neuer, völlig undifferenzierter Blick auf eine Menschengruppe, auf die man die eigenen Agenden projiziert. Da hilft es auch nicht, „LGBT-Flüchtinge“ und deren besondere Schutzbedürfnisse herauszustellen, wenn gleichzeitig „der Islam“ (oder wenig geschickt verschlüsselt „der Islamismus“) als Synonym für eine kollektive Tätergruppe den eigenen Rassismus bestätigen soll. 580 gemeldete, rassistische und rechtsextremistische Anschläge und Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte und Personen (Stand Mitte Oktober), ein Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin Reker, Pogrome gegen Flüchtlinge wie in Heidenau oder Ausschreitungen zwischen Neonazis und Gegendemonstranten und -demonstrantinnen bei den Montagsdemos in Dresden und Erfurt zeigen deutlich, dass der Rechtsruck nicht mehr individualisierbar ist. Er lässt sich nicht einmal mehr einfach an traditionellen Kategorien zuordnen, weil die Opfer-Täter-Gefüge sich neu an einem entstehenden, gemeinsamen Feinbild ausrichten müssen. Dazu gehört auch, dass sich bisher absurd geglaubte Allianzen bilden. Da argumentieren ausgemachte Frauenhasser gerne mit Frauenrechten gegen „die Islamisierung“, Antifeministen loben die EMMA oder Schwule und Lesben hetzen gegen „linke Homos/Volksverräter/Gutmenschen“ aus vorgeschobener Besorgnis, demnächst in Deutschland vom IS ermordet zu werden.

Aus der Vergangenheit zu lernen heißt vor allem, sich zu entscheiden, auf welcher Seite der Geschichte man stehen will. Homosexuelle sind nicht automatisch die besseren Menschen, weil sie je nach anderen Gruppenzugehörigkeiten mehr oder weniger von Homophobie betroffen sind. Und 2015 gibt es für Lesben und Schwule in Deutschland sehr viel mehr Handlungsspielräume als nur die Positionen Täter und Opfer. Sondern es gibt auch die Möglichkeit und dringende Notwendigkeit, dem Rechtspopulismus deutlich zu widersprechen, immer wieder, so oft es nötig ist! Auch in der eigenen LGBT-Community.

Stephanie Kuhnen

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