Film

Don't dream it: „Begegnungen nach Mitternacht"

6. Juli 2014

Bizarr, elegant und exzessiv: In Yann Gonzalez’ Debütfilm „Begegnungen nach Mitternacht“ führt eine nächtliche Orgie zu einer queeren Utopie. Ab 10.07. im Kino

– Würde es heute noch Kultphänomene wie „The Rocky Horror Picture Show“ (1975) geben und wäre der Begriff Kultfilm nicht zu einer abgenutzten Floskel verkommen, Yann Gonzalez’ Debüt „Begegnungen nach Mitternacht“ wäre ein Anwärter dafür. Ein Film, der in die Nacht gehört, in der man besonders empfänglich ist für solch exaltierte Trips ins Unbewusste. Aber auch ein couragierter Film, der queeres Kino wieder als Gegenmodell zum modernen Indie-Mainstream entwirft.

„Archetypen der Lust"

„Empfangt mich mit euren Mündern. Berührt mich. Schändet mich. Habt keine Angst.“ So begehrt ein Gast Einlass zu einer mitternächtlichen Privatorgie, zu der Hausherrin Ali, ihr untoter Liebhaber und ein als Zofe auftretender Transvestit geladen haben. Nacheinander treffen ein als „Archetypen der Lust“: der mit einem Riesenschwanz ausgestattete Hengst, die un­ersättliche Schlampe, der sensible, nach sinnlichen Erfahrungen suchende Teenager und die elegante Diva mit ihren extravaganten erotischen Wünschen.  

Anfangs ist der Film vor allem eine Camp-Komödie, in der im distinguiert-gelangweilten Ton von nichts anderem als von Schwänzen, vom Blasen und Ficken gesprochen wird. Doch das kulminiert in keiner Orgie, zumindest keiner sexuellen. Vielmehr beginnen die Figuren ihr Innerstes nach außen zu kehren und ihre Verletzlichkeit zu offenbaren. Die Handlung kippt dabei immer wieder in eine fiebrige Traumlogik. So erscheint der letzte Gast gleich dem roten Tod bei Edgar Allan Poe in Grabgewändern und Maske. Und obwohl dessen Ankunft für einen der Protagonisten tatsächlich den Tod bedeuten wird, entsteht am Ende die Utopie einer queeren Gemeinschaft oder Familie – eine naive und zugleich zärtliche 68er-Fantasie fast im Sinne von Frank ’n’ Furters „Don’t dream it, be it“.

Kino jenseits des momentanen Post-Queer-Cinema-Quatschs

Gonzalez packt sein Debüt voll mit aufsehenerregenden Motiven und Ideen, die griechische Mythologie, Gothic Novel und Baudelaire in kraftvolle Bilder pressen. Dabei räubert er sich quer durch die Filmgeschichte: die künstliche Neonästhetik, die androgynen, sexuell teilnahmslosen Figuren oder die elektronische Musik von M83 sind an 80er-Undergroundklassiker wie „Liquid Sky“ angelehnt. Die Verweise auf Jean Cocteau oder die Experimentalfilmerin Maya Deren erscheinen noch augenfälliger. Dass sich das nicht einen Moment lang wie ein dröger Setzbaukasten aus Zitaten anfühlt, liegt an der leidenschaftlichen Auseinandersetzung, mit der der Film auf dieses Material zugreift und es in seine Welt integriert. Spürbar wird die Sehnsucht nach einem queeren Kino, das radikaler, kämpferischer ist als der momentane Post-Queer-Cinema-Quatsch mit seinen vom Leben gelangweilten Helden in langweiligen, ereignislosen Filmen. Hier brennt jemand für sein Thema, ohne sich selbst dabei zu beschränken.

Die Vehemenz, mit der an ein längst vergangenes Kino angedockt wird, könnte man auch nostalgisch nennen. Doch der Sprung zurück in die Zeit erlaubt es, wieder dort anzusetzen, wo queeres Kino Menschen noch etwas bedeutet hat und Filmkulte tatsächlich möglich waren.

Andreas Scholz

Siegessäule präsentiert: „Begegnungen nach Mitternacht“, 07.07., 22:00, MonGay, Kino International. Ab 10.07. im Kino

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