PARTY

Im Werden sein

12. Aug. 2014
Wolfgang Müller (li.) und Genesis Breyer P-Orridge beim Konzert von Genesis’ Band Throbbing Gristle im SO36 Anfang der © Richard Gleim

Der Kreuzberger Kultclub SO36 feiert seinen 36. Geburtstag. Der Berliner Künstler und Underground-Experte Wolfgang Müller (Die Tödliche Doris) über das krumme Jubiläum einer queeren Legende

Am 11.08.1978 landete ein UFO namens SO36 in Kreuzberg. Mit einem „Mauerbaufestival“ startete es seine kulturelle Mission gegen politische Betonköpfe von Ost und West. Inszenierungen solch politisch-ästhetischer Doppelbödigkeit vollzog ansonsten nur Joseph Beuys. Der empfahl 1964 „Erhöhung der Berliner Mauer um 5 cm (bessere Proportion!)“ – was seinerzeit zu bösen Missverständnissen führte. Diesen, ich nenne ihn einfach mal protoqueeren Humor hat sich das SO36 bis in die Gegenwart erhalten. Es war schon damals nie nur schwul, nie nur lesbisch oder gar straight. Während in den 1980er-Jahren zumindest die homosexuelle Identitätsfindung mehrheitlich durch Schlager und Eurovision erfolgte, bevorzugte das SO36-Publikum dagegen die Musik von Throbbing Gristle, Malaria!, Lydia Lunch oder Suicide. Dazu kamen ständig neue, unbekannte Unterhaltungsformate wie 1998 das grandiose Kiezbingo der Multimediatunten Inge Borg und Gisela Sommer. Ein Jahr nach Eröffnung pachtete der straighte Künstler Martin Kippenberger das pleitegegangene Lokal und provozierte mit Anzug und Krawatte im Umfeld von Armut und sozialer Ausgrenzung. Erst heute bekommen es einige Berliner Kulturinstitutionen allmählich mit: Im SO36 vollzog sich seit seiner
Eröffnung eine einzigartige Interaktion zwischen Kunst, Postpunk und Pop. Die Kategorien Hoch- und Subkultur existierten ausnahmsweise nicht als Widerspruch – sie wurden grundsätzlich als Frage gestellt. Das SO36 blieb bis heute lokal verwurzelt, ohne dabei provinziell zu werden. Seine Verwurzelung stärkte das feine Gespür für globale, aktuelle, soziale und künstlerische Entwicklungen. Das SO36 ist – mit einem Wort – glokal. Aus den Intensitäten der sich hier einfindenden multiplen Diasporen, entstand schließlich so etwas wie ein Familiennetz. Dieses gründet sich weniger auf klassische Traditionen als auf Freundschaften – und ganz im Sinne von Michel Foucaults Gedanken: Schwulsein bedeute „im Werden zu sein“ und jeglicher identitären Festschreibung zu misstrauen.

Ab Mitte der 1990er veranstaltete das SO36 Techno-Tanzpartys wie „Electric Ballroom“. Zeitgleich fanden die ersten queeren Partys statt. Andernorts führten Schlager- und Discodominanz dazu, dass CSD und ESC heute zuweilen miteinander verwechselt werden. So sind in der taz CSD und ESC – wie auch die entsprechenden Kulturexperten – längst zur Einheit verschmolzen. Conchita Wursts Eintagshit bekam gar den Status einer Nationalhymne. Und während ein taz-Trendscout seinerzeit über die SO36-Gayhane-Party nach dem tCSD mäkelte, „diese 1980er Disco-Musik“ hätten „wir“ – wer gehört folglich nicht dazu? – längst hinter uns, etablierte Fatma Souad mit Gayhane dort die erste „Oriental Night für Lesben, Schwule, Transen und deren Freunde“ in Deutschland überhaupt. Alles ist möglich – und was nicht geht, so die SO36-BetreiberInnen, sind Rassismus, Homophobie, Antisemitismus, Islamophobie und Sexismus.

Keinesfalls verachte ich Schlager und Trashpop. Im Gegenteil: Der erste, 1997 betont offen schwul auftretende Sänger beim langjährigen Klemmschwesterncontest ESC, Páll Oscar, zählt seit 1990 zu meinem isländischen Freundeskreis, mehrfach lud ich ihn zu Konzerten nach Berlin ein. Und meine 83-jährige Mutter liebt den „Musikantenstadl“, entsetzlich – trotzdem liebe ich meine Mutter. Selbstverständlich findet im SO36 auch Gutbürgerliches wie das „Café Fatal“ statt – aber hier sind Schlagerfans eben nur Minderheit unter anderen Minderheiten.

Apropos Mutter. Mein Bruderherz Max, Sänger von Mutter, stand 1981 im Publikum, als ich auf der Bühne mit meiner Band, der Tödlichen Doris, musizierte. Da erblickte Max neben sich plötzlich leibhaftig Udo Lindenberg. „Ej, du bist doch der Sänger mit den sozialkritischen deutschen Texten, wa?“, grunzte der Punk. Damals raunte Max in einem Interview: „Mit 36 bin ich längst tot!“ Und jetzt ist das SO36 schon 36 und Max ist über 50. Super, oder?

Dass Thomas Hitzlsperger von den drei Berliner CSDs ausgerechnet den vom SO36 mitorganisierten Kreuzberger CSD besuchte, wundert mich daher kein
bisschen. Der Ur-CSD war dem Fußballprofi bestimmt zu homoidentitär und das CSD-Aktionsbündnis allzu parteiendominiert.

Extrem originell fand ich übrigens die Idee vom Nacktflohmarkt im SO36. Mit diesem extravaganten Event wollte ich eigentlich eine Reisegruppe junger französischer Kunststudenten beeindrucken. Daraus wurde leider nichts, ich hatte mich offenbar verlesen. Aber vom Nachtflohmarkt schienen sie dann auch ziemlich begeistert gewesen zu sein.

Wolfgang Müller

Sonderausstellung 36 Jahre SO36, Galerie Knoth & Krüger, Oranienstr. 188, Kreuzberg

36 Jahre SO36 Gala, 16.08., 21:00, SO36, alle Veranstaltungen unter: so36.de

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