BEWEGUNGSMELDER

Mit brennender Sorge ...

18. Aug. 2014

Die Kolumne von Dirk Ludigs

... und wachsendem Befremden müssen wir zusehen, wie im Sommer des Jahres 2014 die Berliner Bewegung sehenden Auges in die größte hausgemachte Krise ihrer mehr als 40-jährigen Geschichte schlittert. Selbst der bestmögliche Ausgang des CSD-Schismas – es produzierte nur Verlierer – hat niemanden ernsthaft dazu bewegt, auch nur einen Moment innezuhalten, im Gegenteil: Häme und Hass haben sich in den letzten Wochen noch gesteigert, bis ins Justiziable hinein. Längst ist Außenstehenden nicht mehr zu vermitteln, worum es eigentlich geht. Queer gegen Anti-Queer, Alt gegen Neu, Politik gegen Kommerz – oder doch nur um einen Haufen Platzhirsche im Kampf um die Deutungshoheit? Jeder noch so kleine Versuch, über die Gräben miteinander ins Gespräch zu kommen, gerät dabei ins Sperrfeuer der Unbarmherzigen, wird unter dem Beifall ihrer Claqueure in den sozialen Medien der Vernichtung preisgegeben. Selbst für das Dümmste, sich gegenseitig der Homophobie zu bezichtigen, wird noch nach Rechtfertigung gesucht. Wir stehen vor einem Scherbenhaufen.

„Wer ernsthaft einen Neuanfang möchte, muss auch fähig sein, einen Schlussstrich unter Debatten zu ziehen“

Die politische LGBT-Welt Berlins reicht von linken Dogmatikern bis zu Rechtspopulisten, von 18-Jährigen zu 80-Jährigen, von schwulen Männern zu Transfrauen, sie hat sich in den letzten 40 Jahren um Politikbegriffe, Inhalte, Worte gestritten und wird es weiter tun. Dagegen ist nicht nur nichts zu sagen, sondern alles andere wäre auch demokratiefeindlich und vor allem: wenig fruchtbar! Der Streit hat uns weitergebracht, er hat unseren Blick geschärft und unser Verständnis füreinander.

Trotzdem haben wir auch zusammengehalten, in Zeiten der äußeren Bedrohung, der Aidskrise zum Beispiel, war der Zusammenhalt sogar beispielhaft. Im Umkehrschluss kann die äußere Bedrohung heute so groß nicht sein. Was also treibt diese Krise? Seit ein paar Jahren ist die stets wachsende Szene im Umbruch, Berlin verändert sich dramatisch, neue Player sind dazugekommen, die Galionsfiguren vergangener Tage haben sich zum Teil verabschiedet. Offensichtlich fehlen uns mittlerweile die notwendigen Strukturen und offensichtlich die Bereitschaft, zum Teil die Fähigkeit, den inneren Dialog auf einem angemessenen zivilisatorischen Level zu führen.

Vielleicht lohnt sich angesichts der Misere ein Blick in die eigene Geschichte. Das „Treffen der Berliner Schwulengruppen“ (TBS) war eine, wenn ich mich recht erinnere, monatliche Plattform, auf der die damals zwar alle durchweg linken, aber auch deshalb zu deutlich mehr Kesselflickerstreit fähigen Gruppen sich trafen, sich über ihre Aktionen informierten und dabei auch deeskalierten. Das TBS war auch ein Ergebnis der als Berliner Tuntenstreit bekannten, bitter geführten Auseinandersetzung zwischen Intregrationisten und Radikalen in den Siebzigerjahren. Diesem Bemühen, die Scherben zu kitten, den Dialog untereinander zu stärken und Aktionen zu koordinieren, verdankt zum Beispiel auch die „Siegessäule“ ihre mittlerweile 30-jährige Existenz.

Wir brauchen eine der heutigen Zeit angemessene Wiederbelebung des TBS, das natürlich nicht mehr so heißen kann. Wer ernsthaft einen Neuanfang möchte, muss auch fähig sein, einen Schlussstrich unter Debatten zu ziehen. Schlussstrich ist das Gegenteil von Ausdiskutieren. Wer wen aus welchen Gründen nicht verstanden, böswillig oder nicht zitiert hat, bleibt dabei zwangsläufig erst einmal offen. Wer dazu jetzt immer noch nicht bereit ist, der nimmt den Bruch der fragilen, aber doch seit über 40 Jahren bestehenden Zusammenarbeit zwischen allen LGBT-Gruppen von rechts bis links zumindest billigend in Kauf – oder arbeitet daran. Wer das aber tut, über den sollte zu Recht das Scherbengericht tagen.

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