Bühne

Muskeln im Missverhältnis

8. Sept. 2014
Esra Rotthoff

Am 12.09. ist Premiere von „Fallen”. Unser Autor Carsten Bauhaus sprach vorab mit Regisseur Sebastian Nübling und Choreograf Ives Thuwis

Angeregt ist eure neue Produktion von der Medienberichterstattung über städtische Gewalt. Was hat euch an diesen Nachrichten interessiert?
SN:
Der inhaltliche Ausgangspunkt für das Projekt waren Gewaltausbrüche im öffentlichen Raum, zum Beispiel Schlägereien in U-Bahnen. Berichte über solche Ausbrüche tauchen ja immer wieder in den Medien auf. Grade vor drei Wochen gab es zum Beispiel eine Messerstecherei auf dem Alexanderplatz. Auffällig an diesen Gewalttaten ist, dass Täter und Opfer oft keine Beziehung zueinander haben. Dadurch entsteht das Gefühl, dass diese Taten jeden treffen könnten. Wir haben diese Berichte als Ausgangspunkt genommen, um ein Projekt über die Zusammenhänge zwischen Männern, ihrer Körperlichkeit, Männerbildern und eruptiven Ausbrüchen von Gewalt auf die Bühne zu bringen.

In „FALLEN“ agieren ausschließlich Männer. Heißt das, Gewalt ist ein rein männliches Problem?
SN: Gewalt an sich ist sicherlich kein rein männliches Problem. Aber diese heftigen und scheinbar unerklärlichen Ausbrüche im öffentlichen Raum scheinen ein männliches Phänomen zu sein. Ich zumindest kenne keinen Fall, in dem derartige Gewalt von Frauen ausgegangen wäre. Was uns interessiert, ist, wofür diese eruptiven Ausbrüche und ihre Repräsentation in den Medien stehen. Gewalt ist in unserer Gesellschaft ein staatliches Monopol. Private Ausübung von körperlicher Gewalt ist illegal. Anhand von Schlägereien im öffentlichen Raum kann man Gewalt visualisieren und untersuchen. Wie lassen sich diese Eruptionen lesen? Wird die Gewalt in der Moderne so stark verdrängt, bis sie sich ein Ventil sucht?

Woher kommt diese Gewalt, wo schlummert sie?
SN: Ich finde es schwierig, Gewalt monokausal zu erklären. Es gibt sehr viele Erklärungsansätze und Thesen zu diesem Thema. Wenn man sich mehrere Fälle anschaut, kann man sehen, dass sie von einem Amalgam verschiedener Faktoren ausgelöst wurden – sozialer, biographischer, ideologischer Art. In unserem Projekt verfolgen wir unter anderem einen Gedanken, den der französische Historiker Emanuel Todd einmal in einem anderen Zusammenhang geäußert hat: nämlich, dass es immer wieder Zeiten gegeben hat, in denen ein Überschuss an Männern herrschte, die von der Gesellschaft nicht gebraucht wurden. Wenn man davon ausgeht, dass wir heute auch mit einem solchen Überschuss konfrontiert sind, und uns gleichzeitig unser Männlichkeitsbild ansehen, das mit dem Ideal des durchgeformten Körpers arbeitet, mit perfekten Muskelapparaten – dann entsteht ein Missverhältnis: Die Körper sind gestählt und einsatzbereit, aber diese Energie wird nicht abgerufen. Wohin also mit dieser überflüssigen Kraft?

Ives, du arbeitest in deinen Choreografien fast ausschließlich mit Männern, warum?
IT: Es hat mich immer fasziniert, wie das Miteinander unter Männern funktioniert. Es gibt da diese bestimmt Härte im Umgang — die aber gleichzeitig sehr warm sein kann. Auch in „FALLEN“ geht es darum, wie Männer mit Nähe umgehen. Wie der Männerkörper mit der Nähe eines anderen Männerkörpers zurechtkommt.

Geht es dabei auch um Homoerotik beziehungsweise Homophobie, oder — obwohl nur Männer beteiligt sind — um Geschlechterverhältnisse und Genderfragen?
SN: Es gibt Untersuchungen dazu, inwieweit eruptive Gewalttaten mit Genderfragen zu tun haben, und tatsächlich fallen die Zahlen relativ hoch aus. Da geht es nicht so sehr darum, ob das Opfer homosexuell ist oder nicht, sondern eher darum, dass das Opfer ein bestimmtes Männlichkeitsbild nicht erfüllt. Insofern involviert die Frage nach der eruptiven Gewalt sicherlich auch Genderfragen.

Für euere Produktion wird eigens ein Raum auf dem Platz vor dem Gorki-Theater gebaut.
SN: Wir reden über Gewalt im öffentlichen Raum und gehen darum auch mit dem Projekt ein Stück weit in den öffentlichen Raum.

Die Spielfläche besteht ausschließlich aus Sand. Assoziiert man damit nicht eher gewaltlose Situationen, wie Sonnenbaden am Strand oder Beachvolleyball?
SN: Nein, das glaube ich nicht. Die Bühne funktioniert wie eine Arena – die Zuschauer sitzen an allen vier Seiten rund um die Spielfläche. Wir arbeiten außerdem mit ziemlich schwerem, nassen Sand. Dieser Sand zieht bei jedem Schritt Energie. Für die Schauspieler ist die Aufführung in dieser Hinsicht auch ein Kampf mit dem Material – und diese Art von Kampf ist ja auch unter anderem unser Thema: die Verortung des eigenen Körpers, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Energiehaushalt, das Ausloten von Grenzen, die Befragung des Körpers auf sein Gewaltpotential.
IT: Sebastian und ich haben 2011 schon einmal mit Sand gearbeitet, im Rahmen einer anderen Produktion. Die Schwere des Materials und der Kampf, den die Schauspieler mit diesem Material aufnehmen, sind faszinierend. Das wollten wir gerne weiterentwickeln.

Es gibt keinen Text, dafür aber einen musikalischen Klangteppich und viel Physisches. Warum arbeitet ihr trotzdem ausschließlich mit Schauspielern und nicht mit Tänzern?
IT: Ich arbeite fast nie mit ausgebildeten Tänzern. Manchmal ist das zwar nicht einfach, besonders, wenn es um Bewegungen geht, die nicht auf Kraft und Rohheit aus sind. Aber ich finde es einfach spannender. Es ist viel direkter, weil keine Technik im Weg steht. Was Schauspieler anbieten, hat immer Inhalt: Es gibt keine leeren Bewegungen.
 
Euch geht es um das Missverhältnis des durchtrainierten Männerideals und der deren Unverwendbarkeit in der heutigen Gesellschaft. Bringen euere Darsteller die entsprechenden Körper mit?
SN: Das sind nicht alles Muskelpakete. Aber die meisten haben einen Körper, wo eine Absicht sichtbar wird. Sie alle haben ein Bild von sich, wie ihr Körper sein sollte und so sieht er dann auch aus.

In letzter Zeit erleben wir es öfter, dass Regisseure und Choreografen eng zusammenarbeiten. Was macht diese Kooperation so fruchtbar?
IT: Choreografen arbeiten an erster Stelle von außen nach innen. Sie versuchen, der Form einen Inhalt abzuringen. Regisseure arbeiten eher umgekehrt. Bei uns geht es deshalb hin und her  — im Idealfall geht das dann sehr gut auf.

„Fallen“, 11. (Voraufführung), 12. (Premiere), 13., 16., 17., 19., 20., 21., 24., 25., 28., 29.09., 20:30, Maxim-Gorki-Theater

Der Premierenbericht folgt am 13.09. auf siegessäule.de

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