BERLIN

Liebe gesucht, Hass geerntet

16. Okt. 2014
Dries Verhoeven (c) Martijn Smulders

Nach heftigen Debatten und medialer Entrüstung wurde vor zehn Tagen das Projekt „Wanna Play“ von Dries Verhoeven abgebrochen. Eine Diskussion gab gestern Gelegenheit zur Analyse des „Skandals“

„Nach der letzten Diskussion hatte ich Kopfschmerzen, jetzt fühle ich mich angeregt“, schloss der Moderator Martin Reichert nach knappen zwei Stunden die gestrige Panel-Diskussion im HAU. Das umstrittene Projekt war nach einer hitzigen Debatte am Sonntag vor zehn Tagen abgebrochen worden. Nun hatte das für die Aktion federführende HAU eingeladen, um zu „reflektieren“ — über die Intentionen und Fehler des Projekts, aber auch über die heftigen Reaktionen, die zum Ende des Projekts führten. Rund 200 Interessierte waren gekommen. Der zeitliche Abstand hatte dabei die Gemüter offensichtlich beruhigt.

Die fünf geladenen Gäste taten ihr Bestes, um die Diskussion weiter zu versachlichen. Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker zitierte aus seiner aktuellen empirischen Studie, nach der 55 % der Befragten ihren Partner im Internet kennengelernt haben. Auch Verhoeven selbst durfte zu seiner Überraschung in seinem sozialen Experiment erleben, dass auch auf Dating-Plattformen nicht rein sexuelle Begegnungen möglich werden. 23 Personen, darunter fünf Frauen, kamen in fünf Tagen zu ihm in den Container. Dennoch streuten Verhoeven und die Leiterin des Hau Annemie Vanackere nochmals Asche auf ihr Haupt und räumten „Denkfehler“ ein. Als Künstler wollte Verhoeven zwar Grenzen ausloten, aber nie verletzten. Er bedauert, dass sein „Selbstporträt“ als Nestbeschmutzung missverstanden wurde. „Ich habe Liebe gesucht und Hass geerntet.“

„30 Jahre nachdem Homosexuelle für mehr Sichtbarkeit gekämpft haben, haben sie nun für mehr Unsichtbarkeit gekämpft“

Eigentlich wollte er ausgehend von schwulen Dating-Plattformen gesamtgesellschaftliche Phänomene der Internetnutzung problematisieren. Auch der Blogger Kevin Junk fand, dass Schwule durch den Abbruch die Chance verpasst hätten, ihren Wissensvorsprung um die Freuden und Tücken des Internet-Datings in die Gesellschaft zu tragen. Aus dem Publikum heraus erfuhr der Künstler auch Unterstützung von Rosa von Praunheim, der ja ähnliche Shitstorms aus Zeiten kennt, als man das Wort noch nicht benutzte. Sicherlich Balsam für den zerknirschten Künstler — hatte  er Praunhein doch auf seiner Website als Pate zitiert.

Auch in der Analyse des Protestes schlug Verhoeven den Bogen zu einer seiner Ausgangsthesen. „30 Jahre nachdem Homosexuelle für mehr Sichtbarkeit gekämpft haben, haben sie nun für mehr Unsichtbarkeit gekämpft.“ Auffällig war, dass denjenigen, die das Projekt zuvor lautstark gestoppt hatten, die Lust auf eine differenzierte Aufarbeitung vergangen war. Sie waren gar nicht gekommen. Warum die Mehrheit der nun Abwesenden sich mit Pansy Parker als Opfer identifiziert hatten, versuchte Dannecker zu erklären: Sie würden Berlin als schwules Arkadien kennen und hätte nun erlebt, dass es auch ganz anders sein könnte, jeden Moment kippen könnte. Nur wenige Jahrzehnte nach der massiven Verfolgung von Schwulen, gäbe es auch und gerade in der deutschen Hauptstadt ein großes Bedürfnis nach „scheinbaren Schutzräumen“.

Ganz anders als auf dem Tribunal vor zehn Tagen waren die abschließenden Wortmeldungen aus dem Publikum diesmal allerdings überwiegend affirmativ. Rosa von Praunheim fand es großartig, dass es Dries gelungen sei, „die Schwulen aus ihrer Langeweile und gesättigten Situation herauszureißen und eine extrem leidenschaftliche Diskussion zu entfachen.“ Stimmt. Fast schon sehnte man sich an diesem Abend nach der inzwischen abgeflauten Leidenschaft zurück.

Carsten Bauhaus

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