25 Jahre Mauerfall

Die SIEGESSÄULE in Ost-Berlin

1. Nov. 2014

Die SIEGESSÄULE war bis 1989 eine West-Berliner Zeitschrift. Gelesen wurde sie seit ihrer Gründung im Jahr 1984 aber auch immer im Osten der Stadt

Legal war Berlins Monatsblatt für Schwule im Osten nicht zu erwerben. Der Ost-Leser war schon auf mutige Westbesucher und leichtsinnige Ost-Rentner angewiesen oder hoffte, dass seine A4-Postsendung nicht kontrolliert wurde. Wie viele Zeitschriften bis Ende 1989 die GÜSt (Grenzübergansstellen) passierten, wissen wir nicht. Wir wissen jedoch, dass das Ministerium für Staatssicherheit der DDR in den 1980er Jahren regelmäßig Briefe und Pakete aus dem Verkehr zog, die aus dem Westen nach Ost-Berlin verschickt worden waren und „homosexuelle Druckerzeugnisse“ enthielten. Die dabei am häufigsten festgestellte Zeitschrift war die SIEGESSÄULE. Da es in Ost-Berlin kein einziges Magazin für oder von Schwulen und Lesben gab – abgesehen vom Info-Brief des Arbeitskreises Schwule in der Kirche –, war die Westpresse der einzige Zugang für Ossis zu Informationen über homosexuelles Leben, die Subkultur und politische Initiativen.

Die DDR-Staatssicherheit nahm nicht minder begierig das bunte Blatt mit den oft freizügigen Titelbildern unter die Lupe.

Doch nicht nur die Schwulen und Lesben gierten nach Unterhaltung und Teilhabe am Wissen über das, was auch sie zu betreffen schien. Die DDR-Staatssicherheit nahm nicht minder begierig das bunte Blatt mit den oft freizügigen Titelbildern unter die Lupe. Im Januar 1986 legt das MfS eine Einschätzung zum Inhalt aller Ausgaben der SIEGESSÄULE von 1984 und 1985 vor, wobei der Verfasser vor allem auf die geäußerten Positionen gegenüber der DDR eingeht. Er kommt zu dem Schluss, dass in der Zeitschrift „gewisse kritische, jedoch nicht aggressiv-feindliche Haltungen gegenüber der DDR“ geäußert werden. Außerdem sei die „Anti-Position gegenüber Senat (Westberlin) und den Repressiv-Organen des bürgerlichen Staates (BRD/ US-Administration) […] naturgemäß stärker ausgeprägt“. Daher gäbe es für eine „generelle Zurückweisung […] z.Z. politisch-ideologisch keine zwingenden Gründe“. Das MfS schätzte die Verbreitung der linksorientierten SIEGESSÄULE in der DDR – die weiterhin verboten blieb – als ungefährlich ein und hoffte, die DDR-Leser würden die Kritik der Autoren an der Bonner und West-Berliner Politik übernehmen und sich fester in die Umarmung des fürsorgenden sozialistischen Staates ergeben.

Was der Stasi-Analyst allerdings nicht wahrnahm, waren die leisen Botschaften der Freiheit und des Konsums, die in jeder Zeile der Westzeitschrift steckten. Denn in der Welt der Systemkonkurrenz vertrat die SIEGESSÄULE nicht nur politische Einstellungen, sondern machte zudem unglaubliche Werbung für die verlockenden Angebote des schwulen Westens. Die Ost-Berliner erfuhren von den neuesten Publikationen zum Thema Homosexualität und lasen die dazu gehörigen Rezensionen. Anzeigen schwuler Shows und Ledershops, Bars, Restaurants, Saunen und Videotheken sowie Hinweise auf Stammtische, Galerien, Ausstellungen, Filme, TV- und Radiobeiträge, Theatervorstellungen, Liederabende, Partys und Lesungen fanden sich in der Zeitschrift. Es wurden zudem Beiträge über die Schwulen- und Lesbenbewegungen in anderen Ländern, Kontaktanzeigen und Artikel über das Leben berühmter Homosexueller abgedruckt. Die Kontaktdaten und Ansprechpartner von Vereinen und Initiativen in West-Berlin, wie der AHA, des SchwuZ, parteienbezogener Gruppen, Gewerkschafts- und Berufsgruppen, Studenten-, Jugend- und Kirchengruppen, Hilfs- und Beratungszentren gelangten mit der SIEGESSÄULE nach Ost-Berlin.

Es war eben auch diese besondere Situation, in Ost-Berlin mit den Freiheiten und Vergnüglichkeiten des Westens ständig konfrontiert zu sein

Was bedeutete das für die Homosexuellen im Osten? Sie sahen, was sie alles nicht hatten und auch in absehbarer Zeit nicht haben werden. Zwar verstanden sich die Schwulen- und Lesbengruppen in Ost-Berlin immer als eigenständige DDR-Bewegung, doch das Wissen um die Möglichkeiten homosexueller Selbstorganisation in West-Berlin und in der Bundesrepublik half ihnen bei der Konkretisierung ihrer Forderungen gegenüber Staat und Gesellschaft. Es war eben auch diese besondere Situation, in Ost-Berlin mit den Freiheiten und Vergnüglichkeiten des Westens ständig konfrontiert zu sein und die Diskrepanz zwischen den beiden Systemen immer deutlicher wahrnehmen zu können, die die DDR-Führung ab Mitte der 1980er Jahre zunehmend unter Legitimationsdruck setzte.

Teresa Tammer

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