BÜHNE

Tanz die Krise!

17. Nov. 2014
© Ruthe Zunz

Das Vertrauen in unsere wirtschaftlichen und demokratischen Systeme schwindet. Zum wiederholten Mal versuchen jetzt MS Schrittmacher eine Krise zu visualisieren, die wir zwar spüren, aber nicht wirklich fassen können. „Das System ist sehr sensibel, ein Störfaktor genügt. Ein weiterer Vulkanausbruch in Island etwa könnte die gesamte europäische Logistik zum Stillstand bringen,“ erklärt der künstlerische Leiter Martin Stiefermann. „Brandherde gibt es genug: Der Nahe Osten, die Ukraine, Afrika. Und die ‚Burg Europa‘ schützt sich vor den Flüchtlingsansturm, die Bundesregierung legt Vorratsspeicher an, für die Energieversorgung in einer möglichen Megakrise.“

MS Schrittmacher versteht sich als eine Art lockeres Künstlerkollektiv, ein Pool von freien und festen Choreografen, Tänzern und Komponisten. Diesmal arbeitet Stiefermann mit der Choreografin Efrat Stempler zusammen, die gebürtig aus Israel kommt. Auch dort hatte es vor drei Jahren ein Protestbewegung gegeben, gegen immer unbezahlbarer werdende Lebenshaltungskosten. Darüber hinaus hat sie viel Anschauungsmaterial studiert: Bilder vom arabischen Frühling etwa, oder vom Maidan: Wie manifestiert sich Protest im Körper? Mit ihrem Tänzer Andrea Dorian Rama hat sie so etwa die Geste aus Ferguson einstudiert: Die erhobenen Hände des von der Polizei niedergeschossenen Michael Brown, die von den Demonstranten anschließend als „Key-Visual“ genutzt wurde. Konterkariert wird die Körpersprache des verzweifelten Protests von Obamas „Yes we can“ – ein Wahlkampfslogan, der heute nur noch wie ein hohles Versprechen nachhallt.

Protest ist nur eine der beiden möglichen Reaktionen auf die Krise

Aber Protest ist nur eine der beiden möglichen Reaktionen auf die Krise. Die Kapitulation vor der Macht der Verhältnisse ist die andere. Statt des Aufbegehrens im öffentlichen Raum der Rückzug ins Private. Martin Stiefermann hat zusammen mit dem Tänzer Jorge Morro dessen Ausdrucksformen ausgelotet: die Körpersprache der Hoffnungslosigkeit, der Politikverdrossenheit, das sich Einigeln in einen scheinbar geschützten überschaubaren Raum. Zunächst getrennt erarbeitet, wurden die beiden choreografischen Mosaikstücke später zusammengefügt. Martin Stiefermann hat selbst viele Freunde, die sich aufs Land zurückgezogen haben. Auch um sich dort notfalls autonom zu versorgen. „Im Kriegsfall ging es den Leuten auf dem Land schließlich immer besser als denen in der Stadt.“ Aber auch im urbanen Raum erlebt Stiefermann, dass das traute Zuhause einen immer höheren Stellenwert einnimmt. „Anstatt auszugehen, lädt man Freunde zu sich ein. Es ist das neue Beidermeier.“ Auch politisch ist der Rückzug spürbar, etwa an ständig steigenden Zahl an Nichtwählern.

Die klassische Theatersituation, Zuschauerinnen und Zuschauer im Dunkeln, die Tänzer im Hellen, gibt es bei MS Schrittmacher nicht. „Wir wollen unserem Publikum eine andere Perspektive geben und erfinden deshalb für unsere Projekte immer besondere Zuschauerkonstellationen — was aber nicht heißen muss, dass es unbedingt interaktiv wird.“ 2012 hatte MS Schrittmacher „Alice im Wunderland“ inszeniert — im Karstadt am Hermannplatz. Bei laufenden Betrieb folgte das Publikum der Darstellung vom Lager im Keller bis zur obersten Verkaufsabteilung. Auch bei VON INNEN HERAUS DRAUSSEN gehört den Tänzer die Bühne nicht allein. Der Komponist Albrecht Ziepert agiert mit seinem Mischpult mitten zwischen den Tänzern. Er nimmt live Geräusche und Wortfetzen auf und sampelt sie bei laufenden Geschehen. „Jede Vorstellung wird also einzigartig sein,“ so Stiefermann. „Live auf der Bühne kreiert Albrecht Ziepert den Soundtrack zu einer unfassbar gewordenen Welt“.

Carsten Bauhaus

VON INNEN HERAUS DRAUSSEN, 17. u. 18.11. (Voraufführungen), 19.11. (Premiere), 21.-23.11.+ 26.-29.11. 2013 jeweils 20.30, am 23.11. um 18.00

EDEN*****, Breite Strasse 43, Pankow

mehr hier!

Das Siegessäule Logo
Das Branchenbuch mit Haltung
Queer. Divers. Überzeugend.