POLITIK

„Die Gefahr für schwule Männer wird nicht ernst genug genommen“

16. Feb. 2015
Jörg Steinert (c) LSVD

Auch Homosexuelle sind von Zwangsverheiratung betroffen. „Wir brauchen Krisenwohnungen für schwule Männer“, sagt LSVD Berlin-Brandenburg-Geschäftsführer Jörg Steinert im Siegessäule-Interview

Vor zehn Jahren wurde die damals 23-jährige Hatun Sürücü Opfer eines sogenannten Ehrenmordes. Die Berlinerin mit kurdischen Wurzeln wollte ein eigenständiges Leben führen – ohne vorgeschriebenen Ehemann und auch ohne Kopftuch. Zu viel für ihre Familie – ihr eigener Bruder erschoss sie an einer Bushaltestelle.

Der Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung hat jetzt eine neue Umfrage veröffentlicht und macht außerdem darauf aufmerksam, dass sich unter den Opfern häufig auch Homosexuelle befinden. „Wir brauchen Krisenwohnungen für schwule Männer“, sagt LSVD Berlin-Brandenburg-Geschäftsführer Jörg Steinert im Interview mit SIEGESSÄULE.DE.

Am 7. Februar 2015 jährte sich der Todestag von Hatun Sürücü zum zehnten Mal. Wie hat sich der Umgang mit der Thematik Zwangsehe bzw. Ehrenmord seitdem verändert? Zwangsverheiratungen sind nach wie vor ein Problem. Jedoch ist das Problembewusstsein in Politik und Gesellschaft gestiegen. Dies hat auch politisches Handeln beeinflusst. So ist Zwangsverheiratung inzwischen ein eigener Straftatbestand. Zugleich besteht auch auf gesetzlicher Ebene Konkretisierungsbedarf, so sollten beispielsweise Zwangsverheiratungen auch dann bestraft werden, wenn sie nur rein religiös geschlossen werden.

Der Berliner Arbeitskreis (AK) gegen Zwangsverheiratung hat eine Umfrage zum Ausmaß von Zwangsverheiratungen in Berlin durchgeführt. Dabei wird erwähnt, dass von 705 befragten Institutionen und Beratungseinrichtungen sowie Migrantenselbstorganisationen (MSO) nur 159 antworteten. Wie lässt sich die geringe Beteiligung erklären? Die Rückmeldung von 159 Organisationen ist im Vergleich zur vorangegangenen Befragung im Jahr 2007 ein Erfolg. Zugleich gilt es, das Problembewusstsein bei Beratungseinrichtungen weiter zu schärfen. Dies gilt auch für die LGBT-Community. Wir waren die einzige LGBT-Organisation, die sich an der Umfrage beteiligt hat.

Bei den bekannt gewordenen 460 Fällen von Zwangsverheiratung waren sechs Prozent der Opfer männlich. Der AK, aber auch der LSVD machen in diesem Zusammenhang gerade auch auf die Gefahr für homosexuelle Männer aufmerksam. Fakt ist, auch Lesben und Schwule leiden unter falschen Ehrvorstellungen in Familien, sie werden Opfer von Gewalt und Zwangsverheiratung. Von Krisenunterkünften für Frauen wissen wir, dass etwa 10 Prozent der hilfesuchenden Frauen lesbisch sind. Zugleich gibt es noch immer keine Krisenwohnungen für erwachsene homosexuelle Männer. Die beste psychosoziale Beratung stößt unter diesen Bedingungen schnell an ihre Grenzen.

Der LSVD unterhält das Zentrum für Migranten, Lesben und Schwule (MILES). Welche Erfahrungen haben Sie dort mit Homosexuellen gesammelt, die das Zentrum wegen einer drohenden Zwangsverheiratung aufsuchten? Die Menschen kommen zu uns, wenn die Bedrohung konkret wird und akut Handlungsbedarf besteht. Sie wollen dann schnell weg von ihrer Familie. An einer Anzeige und einer strafrechtlichen Auseinandersetzung ist ihnen meist nicht gelegen, häufig aus Angst, aber auch aus dem Wunsch heraus, der eigenen Familie nicht schaden zu wollen.

460 Fälle von Zwangsverheiratung wurden gezählt. Wie hoch schätzen Sie die Dunkelziffer ein? Die Dunkelziffer lässt sich nicht seriös schätzen. Ob es tatsächlich 600 oder 2.000 Betroffene sind, wissen wir schlicht und ergreifend nicht. So oder so besteht politischer Handlungsbedarf, denn jeder Fall von Zwangsverheiratung ist einer zu viel.

Was macht die Politik bisher falsch? Der Staat vernachlässigt seine Fürsorgepflicht. Die Gefahr für Leib und Leben, der betroffene schwule Männer ausgesetzt sind, wird nicht ernst genug genommen. Ansonsten gäbe es längst eine entsprechende Krisenunterkunft. In Bezug auf Homosexualität dürfen wir zudem nicht die Bedeutung von Glauben und Religion unterschätzen. Religiösen Vorbehalten wird mit viel zu großem Verständnis und zum Teil auch mit Gleichgültigkeit begegnet. Insbesondere für homosexuelle Muslime ist es ein Dilemma, dass es keine einzige Moschee in Berlin gibt, die sie offen willkommen heißt. Das hat natürlich auch Einfluss auf religiös geprägte Familien, die eigentlich nur das Beste für ihre Kinder wollen, aber ihnen zum Teil das Schlimmste antun.

Interview: Daniel Segal

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