Eurovision Song Contest

Zwischen Pest und Cholera

24. Mai 2015

Nach jedem Hoch folgt ein Tief, heißt eine alte Binsenweisheit. Nachdem die große alte Tunte ESC mit Conchitas Sieg 2014 endlich ihr längst überfälliges queeres Coming-out feierte, muss sie bereits ein Jahr danach ein tiefes Tal durchschreiten. Im finalen Punkte-Battle standen sich gegenüber: der Schwede Måns Zelmerlöw, der in irgendeiner Kochshow durch homophobe Äußerungen aufgefallen war, und die Russin Polina Gagarina, deren Sieg den ESC wohl nur in eine weitere Putin-Show verwandeln würde. Nach Stil und Haltung im letzten Jahr gab es also diesmal die Wahl zwischen Pest und Cholera! Konventioneller schwedischer Dance-Pop, der vor allem von seinen Visuals lebt, im Kopf-an-Kopf-Rennen gegen den gefälligsten Balladen-Schmachtfetzen des Abends. An dessem Ende bricht die russische Sängerin vor Ergriffenheit in Schnappatmung aus, als würde man ihr gerade die ESC-Trophäe überreichen. Doch die großen Gesten sind verschenkt: Nachdem sie bei der Punktevergabe eine ganze Weile vorne liegt, muss sie sich schlussendlich dem Schweden geschlagen geben. Was wohl immerhin bedeutet, dass all die wedelnden Regenbogenfahnen und gleichgeschlechtlichen Küsse auch im nächsten Jahr ungestört in Großaufnahme über die Bildschirme flimmern werden. Und der Gewinner distanzierte sich bereits wieder brav und reumütig von seinem verbalen Ausfall, inszeniert sich homofreundlich und absolvierte Auftritte bei schwedischen Schwulengalas.

Wenn man etwas nach diesem ESC vermissen wird, ist es die Wiener Stadthalle mit ihrer grandiosen Lichtinstallation, die wie ein bewegliches Kunstwerk wirkte. Verfolgen wird einen auch die Frage, bei welchem Hexensabbat sich ESC-Moderatorin Arabella Kiesbauer ihre ewige Jugend verschafft hat, denn die Dame scheint Jahrzehnte nach ihren Talk-Show-Auftritten im deutschen Fernsehen kaum gealtert. Und Conchita? Sie war natürlich omnipräsent: Auf der Bühne als Verstärkung des Moderatorinnen-Trios, als Gastgeberin des Green Rooms, aber auch in vielen der dargebotenen Songs. Denn einer alten Regel des ESC folgend wird das Gewinnerlied des Vorjahres gnadenlos kopiert. So wimmelte es 2015 vor dramatischen Balladen à la „Rise like a Phoenix“. Auch ihre Feuerflügel kamen abgewandelt zum Einsatz, während die etwas zu Unrecht mit null Punkten abgestrafte Ann Sophie sich mit ihrem deutschen Beitrag „Black Smoke“ an Conchitas Bond-Referenzen bediente. Ein weiterer Trend der letzten Jahre setzte sich ebenso fort: Der liebevolle Trash von einst wird zunehmend ausgetauscht durch identitätslosen Allerweltspop, der diesmal etwas zu oft versuchte, sich mit Themen wie Krieg und Genozid den Schein des Authentischen zu verleihen. Mit einer komplett abseitigen Performance konnte eigentlich nur die Truppe aus Großbritannien schocken. Sie gaben einen hysterischen, ohrenbetäubenden Electro Swing zum besten, der selbst Kommentator Peter Urban entsetzt zurückließ. Wirklich campe Funken versprühte die Nummer jedoch nicht. Sie ist nur ein weiterer Beweis dafür, wie sehr man im Mutterland der Popmusik den ESC mittlerweile verachtet und wie wenig man darum bemüht ist, irgendetwas Brauchbares zu diesem SängerInnenwettstreit zu entsenden.

Auch Conchita war im Rahmenprogramm mit einer Nummer dabei, die leider keinen Deut besser oder weniger austauschbar klang als das, was man im Wettbewerb zu hören bekam. Wie bei fast jedem ESC gibt es jedoch wenigstens einen Song, der sich über die allgegenwärtige Cheesiness erhebt und den man fast Musik nennen könnte. Diesmal kam er aus Lettland und hieß „Love injected“ von Aminata Savadogo. Eine leicht vertrackte, an FKA Twigs erinnernde Pop-Nummer zwischen R&B und Electro mit einem tollen Chorus, in der tatsächlich so etwas wie echte musikalische Ambition aufblitzte. Die im letzten Jahr noch so gescholtene deutsche Jury, die dafür verantwortlich war, dass Conchita nur 7 Punkte aus Deutschland erhielt, bewies in der neuen Besetzung ein sichereres Händchen bei der Favoritenwahl. Bei allen Jury-Mitgliedern landete der Song auf dem ersten Platz.

Andreas Scholz

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