Pädophilie-Debatte

„Das betraf nicht nur die SIEGESSÄULE“

26. Aug. 2015
Prof. Dr. Dr. Klaus M. Beier von „Kein Täter werden“

Das an die Charité angegliederte Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ richtet sich seit 2005 an Menschen, die Angst haben, eine pädosexuelle Straftat zu begehen. Als wir uns im Juli mit dem Pädophilie-Bericht der Berliner Grünen und der eigenen, teilweise pädophilenfreundlichen Berichterstattung in den 80er-Jahren auseinandersetzten, rief die Therapieeinrichtung jedoch dazu auf, nicht in Hysterie zu verfallen. „Wir enttabuisieren die Neigung, tabuisieren aber das Verhalten“, erklärt Leiter Prof. Dr. Dr. Klaus M. Beier jetzt im SIEGESSÄULE-Interview

Herr Beier, wer sucht bei „Kein Täter werden“ Hilfe? Statistisch waren knapp drei Viertel der durchschnittlich 37 Jahre alten Probanden erwerbstätig, in Ausbildung oder im Studium. Etwas weniger als die Hälfte der Probanden lebte aktuell in einer Partnerschaft, wobei über ein Drittel Bezugsperson für Kinder war. Nur die wenigsten waren aufgrund einer relevanten Straftat der Justiz bekannt geworden, obwohl bereits die Hälfte einen Übergriff begangen hatte und annähernd drei Viertel Missbrauchsabbildungen genutzt hatten. Das Allermeiste spielt sich also im Dunkelfeld ab. Hinsichtlich der sexuellen Ausrichtung hatten circa zwei Fünftel angegeben ausschließlich durch Mädchen, ein Fünftel ausschließlich durch Jungen und wiederum zwei Fünftel durch Jungen und Mädchen sexuell ansprechbar zu sein. (Anm. d. Red.: In unserem Artikel vom Juli 2015 stand, dass die Anteile Homo- beziehungsweise Heterosexueller mit pädophilen Begierden in der Gesamtgesellschaft etwa 50:50 betragen. Tatsächlich bezogen sich diese Werte auf die Menschen, die sich bei „Kein Täter werden“ in Behandlung befanden.)

Kürzlich hat sich die SIEGESSÄULE noch einmal mit dem Pädophilie-Bericht der Berliner Grünen beschäftigt, vor allem aber haben wir uns angeschaut, inwiefern pädophilenfreundliche Berichterstattung in den 1980er-Jahren auch in unserem Magazin stattgefunden hat. Waren Sie von den Ergebnissen überrascht? Nein. Der Bericht der Berliner Grünen hat noch einmal deutlich gemacht, wie sehr in der damaligen Zeit die Grenzen verwischt waren zwischen der Sexualität der Erwachsenen und den Bedürfnissen der Kinder. Das hatte weite Teile der Gesellschaft erfasst und spiegelt sich entsprechend in Texten verschiedener Medien wider. Das betraf nicht nur die SIEGESSÄULE. Sie sind Ausdruck der veränderten Sichtweise auf Sexualität und ihres gesellschaftlichen Stellenwertes. Der Aufbruch der 60er-Jahre hat die Sexualität ja ganz neu zum Thema gemacht und mit Hoffnungen auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaftsordnung verknüpft. Es ging um utopische Visionen eines befreiten Menschen, die sich um Schlagworte rankten wie „Abschaffung der Zwangsheterosexualität“, „Auflösung der Paarbeziehung“ und eine Entwertung von „Treue“ als Ausdruck „bürgerlich-kapitalistischer Besitzansprüche“.

Bei der gesamten Pädophilie-Debatte hat „Kein Täter werden“ in der SIEGESSÄULE zu einer „Versachlichung“ aufgerufen. Was genau ist damit gemeint? Unsere Erkenntnisse über sexuelles Erleben und Verhalten sind deutlich angewachsen und sollten in stärkerem Umfang auch Grundlage für öffentliche Diskussionen werden. Dann kann man auf einer sachlichen Ebene enttabuisieren. So wissen wir um das große Spektrum menschlicher Sexualität und darum, dass sich sexuelle Präferenzen im Jugendalter manifestieren und dieser Prozess keiner willentlichen Beeinflussung unterliegt. Das ist Schicksal und nicht Wahl. Darum wäre es inhuman, Menschen ihre sexuelle Präferenz vorzuwerfen. Wir müssen diese zunächst einmal wertfrei respektieren. Dies gilt auch für die Pädophilie. Allerdings nur solange die Betroffenen niemanden zu Opfern ihrer sexuellen Ausrichtung machen. Wir enttabuisieren also die Neigung, tabuisieren aber das Verhalten. Darin liegt der Unterschied zu den Aufweichungstendenzen Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre.

Wie schätzen Sie diese „Aufweichungstendenzen“ heute ein? Die heutige empirische Datenlage gibt wenig Raum für Zweifel, dass sexuelle Traumatisierung in der Kindheit mit Früh- und Spätfolgen verbunden sein können. Davon unabhängig gab und wird es immer eine Gruppe von Männern mit pädophiler Neigung geben, die sehr viel Energie darauf verwenden, gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen zu wollen, die sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern zulassen – weil dies ihren Interessen dienen würde und sie dann ihre sexuellen Wünsche straffrei ausleben könnten. Dies zeigt letztlich ein Hadern mit dem Schicksal, weil sie zwar für ihre pädophile Neigung nichts können, aber sich eben nicht damit abfinden möchten, dass ein Ausleben dieser Neigung mit Schäden für die betroffenen Kinder verbunden sein könnte und daher grundsätzlich zu unterbleiben hat. 

Warum hat es schlussendlich so lange gedauert, bis sich die katholische Kirche und die Grünen mit dem Thema Pädophilie auseinandergesetzt haben? Weil niemand mit Pädophilie in Verbindung gebracht werden möchte. Die soziale Stigmatisierung ist enorm. So zeigte eine kürzlich durchgeführte Fußgängerbefragung: 40 Prozent der Befragten wünschten sich einen Pädophilen, der noch nie eine Straftat begangen hat, ins Gefängnis, und zehn Prozent vertraten die Auffassung, dass dieser besser tot sein sollte.

Was muss passieren, um pädosexuelle Straftaten weiter zu reduzieren? Erforderlich ist eine allseitige Verstärkung der Anstrengungen. Das Justizsystem bleibt beispielsweise hinter seinen Möglichkeiten zurück, sonst hätten wir in dem Bereich nicht so ein gigantisches Dunkelfeld. Insbesondere bei der Nutzung von Missbrauchsabbildungen ist die abschreckende Wirkung des Strafrechts minimal. Wer erwischt wurde, hat mit keiner zügigen Reaktion des Rechtssystems zu rechnen und macht – so viel wissen wir – schon nach kurzer Zeit weiter.

Interview: Daniel Segal

kein-taeter-werden.de

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