Klassik

„Ein bisschen für Empörung sorgen“

2. Sept. 2015
Michael Tilson Thomas ist unter anderem Chefdirigent des San Francisco Symphony © Bill Swerbenski

Michael Tilson Thomas ist Chefdirigent des San Francisco Symphony, mit dem er zur Zeit auf Europa-Tournee ist. Vor seinem Auftritt beim Musikfest Berlin am kommenden Freitag gab er uns ein Interview

Im Rahmen ihrer Europatournee gastieren Michael Tilson Thomas und das San Francisco Symphony beim Musikfest Berlin. Wieso das Orchester zu den spannendsten und innovativsten der USA gehört und weshalb die CD-Aufnahmen immer so lebendig klingen, hat der Dirigent im Gespräch mit Siegessäule verraten

Herr Tilson Thomas, Sie scheinen ein Typ für Langzeitbeziehungen zu sein: Sie sind dieses Jahr genau 20 Jahre Leiter des San Francisco Symphony, Ende letzten Jahres haben Sie nach 38 Jahren Beziehung Ihren Partner Joshua Mark Robison geheiratet, der auch Ihr langjähriger Manager ist. Was ist Ihr Rezept für lange glückliche Beziehungen?
Lange Beziehungen sind sehr wichtig für mich. Ich habe außerdem vor 26 Jahren die New World Symphony in Miami gegründet und arbeite seit 45 Jahren mit dem London Symphony Orchestra zusammen. Auch mit diesen beiden Orchestern war ich auf Tournee dieses Jahr. Das war für mich ein Fest. In all diesen Fällen ist der Schlüssel zum Gedeihen dieser Beziehungen, mit den Orchestermitgliedern und auch mit dem Publikum eng zusammenzuarbeiten, um gemeinsam den ganzen Reichtum der Musik zu entdecken. Der persönliche Zugang entwickelt sich und wird direkter mit der Zeit. Mein Partner Joshua und ich sind beste Freunde und Kollegen. Was für bessere Voraussetzungen könnte es für eine lange Beziehung geben?

Mit dem San Francisco Symphony bieten Sie neben Klassik und Romantik auch Neue Musik erfolgreich an. Wie haben Sie dem Publikum die Ohren geöffnet?
Ich finde, es ist unverzeihlich, das Publikum zu langweilen. Aber es ist in Ordnung, es ein bisschen zu erschüttern, für Empörung zu sorgen, damit dann darüber gesprochen wird. Ich habe einmal einen Brief von einem sehr treuen Förderer des San Francisco Symphony bekommen, nachdem ich ein großformatiges Stück Neuer Musik uraufgeführt habe. Er sagte mir sinngemäß: „Wie können Sie mir das antun?“ Und ich habe geantwortet: „Stellen Sie sich vor, wir würden zusammen auf eine Seereise gehen und träfen auf eine völlig unbekannte Insel. Und wenn wir mit unseren Ferngläsern den Strand sähen, würden wir unbekannte Pflanzen und Tiere erkennen. Wäre dies nicht eine wunderbar aufregende Erfahrung?

Welche Orchestermusik mögen Sie am liebsten?
Ich habe mich immer mit der Musik von Gustav Mahler identifiziert. Seine Symphonien habe ich entdeckt, als ich 10 Jahre alt war. Dabei erkannte ich viel von meiner eigenen Welt wieder. Manche Werke, die mir am nächsten sind, haben mich als Person verändert.

Sie kannten auch die Soul-Legende James Brown persönlich und mögen die Musik von Duke Ellington und von Brian Wilson von den Beach Boys. Wie beeinflussen diese Erfahrungen mit Pop und Jazz Ihren Zugang zur Klassik?
Ich glaube, alle Musikliebhaber sehnen sich manchmal nach einem weniger formalen Rahmen als die Konzerthalle und nach anderen Genres. Ich mochte James Brown und habe von ihm viele Dinge gelernt, die ich in meine musikalische Praxis mit den Orchestern einbringe.

Von den mit Grammys ausgezeichneten Mahler-Aufnahmen bis zu der gefeierten „West Side Story“ von Bernstein kürzlich klingen Ihre Aufnahmen mit dem San Francisco Symphony immer unglaublich frisch und lebendig. Wie machen Sie das?
In San Francisco nehmen wir alles live auf. Das ist eine viel überzeugendere Erfahrung für uns. Wir machen Musik für die Menschen im Saal, dabei entsteht der Drang, mit dem Publikum zu kommunizieren. Im Studio kann man dies aus den Augen verlieren. Es ist ein Unterschied, ob man im Studio für die Aufnahmemaschine oder live für Menschen spielt.

Sie sind jetzt 70 Jahre alt. Kaum zu glauben, das sieht man Ihnen nicht an. Was ist Ihr Geheimnis?
Musik – und das Glück, täglich mit großartigen Orchestern und Musikern zu arbeiten. Das gibt mir sehr viel Energie und Freude.

Interview: Eckhard Weber

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Arnold Schönberg: „Variationen“ op. 43b, John Adams: „Absolute Jest“, Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 3 Es-Dur „Eroica“ mit St. Lawrence String Quartet, San Francisco Symphony, Synergy Vocals, Michael Tilson Thomas (Leitung) beim Musikfest Berlin, 4.9., 20:00, Philharmonie

Aktuelle CD:John Adams: „Absolute Jest“, „Grand Pianola Music“, St. Lawrence String Quartet, Orli Shaham (Klavier), Marc-André Hamelin (Klavier), San Francisco Symphony, Synergy Vocals, Michael Tilson Thomas (Leitung), John Adams (Leitung), SFS Media

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