KOMMENTAR

Das wird man doch wohl noch sagen dürfen …

20. Sept. 2015
Stephanie Kuhnen (c) Martin Pelzer

Queere Political Correctness kann jederzeit alle treffen. Dafür braucht man nur eine eigene Meinung!

Heute schon von einer Gesinnung terrorisiert worden? Oder von linksgrünen Pädo-Schwulen frühsexualisiert? Oder womöglich von der Evolution ausgemusterten Genderistinnen kastriert? Oder in Kreuzberg vom IS verschleppt? Von im Internet herumlungernden Gutmenschen in die Arbeitslosigkeit gemobbt? Von queer-radikalen Transen in die Geschlechtslosigkeit gegendert? Nicht? Das kann man sich kaum vorstellen, wenn man die Medien der letzten Wochen verfolgt hat. Queere Political Correctness kann jederzeit alle treffen. Dafür braucht man nur eine eigene Meinung!

So eine wie die junge Frau, die ihre in einer öffentlichen Facebook-Gruppe ausbreitete: „Homosexuelle Menschen gehören getötet. Ist ja widerlich!“ und dafür von der Aktivisten-Gruppe Enough is Enough angezeigt wurde. Die Polizei reagierte mit einer Wohnungsdurchsuchung bei der Frau, ihr Arbeitgeber kündigte ihr aufgrund ihrer Äußerungen den Ausbildungsplatz. Auch vorletzte Woche: Die schon im März misslungene, weil völlig vorhersehbar tendenziöse Debattensendung „Hart aber Fair – Nieder mit den Ampelmännchen. Deutschland im Gleichheitswahn?“ wurde ganz patzig in derselben Besetzung plus einer Sendungskritikerin einfach wiederholt. Die Sendung war auf eine Programmbeschwerde der LAG der Gleichstellungsbeauftragten in NRW vorerst aus der WDR-Mediathek genommen worden. Raider hieß dann Twix: „Hart aber Fair - Was darf zu Mann und Frau gesagt werden?“. Inhaltlich gebracht hat es nichts Neues, aber das Bild von Gender Mainstreaming und Geschlechtervielfalt als Meinungsdiktatur konnte verfestigt werden. Mission erfüllt – Homophobie und Antifeminismus konnten sich als Zensuropfer feiern lassen. Dieser Absurdität die Flanke stärkend titelte auch Die Zeit mit irritierend rechtspopulistischer Rhetorik: „Was man nicht mehr sagen darf. Trauen Sie sich noch auszusprechen, was sie wirklich denken? Ein paar Handreichungen gegen den Gesinnungsterror“.     

„Besonders perfide ist das schamlose Herumgeopfere derjenigen, die einfach nur hemmungslos homophob sein wollen“

Eine Upgrade-Version von „Meinung“ ist übrigens „Glauben“. Kardinal Marx, der ohnehin findet, dass „Homosexuelle gescheiterte und zerbrochene Menschen“ sind, erteilte der Bundeskanzlerin eine Lektion in Sachen Demokratie, indem er befindet, der Staat dürfe nicht über „die Menschenwürde“ urteilen. Dazu gehört für ihn auch die Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften mit der Ehe. Der Skandal liegt darin, dass hier sehr unverhohlen verfassungsfeindlich Glauben über Demokratie gestellt wird. Wohin das führt, zeigt das Beispiel der US-amerikanischen Standesbeamtin Kim Davis, die aus persönlich religiösen Gründen einem schwulen Paar den Trauschein verweigerte, dafür kurz in Untersuchungshaft landete und als weltbekannte christlich-fundamentalistische Märtyrerin und Wahlkampfhelferin der Republikaner wieder herauskam. Wozu braucht es eine demokratische Gewaltenteilung von Judikative, Exekutive und Legislative, wenn es Gottes Wille und die heterosexuelle Menschenwürde aus nur einem Buch gibt?    

Besonders perfide ist das schamlose Herumgeopfere derjenigen, die einfach nur hemmungslos homophob sein wollen. Und dazu gehört auch das nicht anerkennen wollen von Geschlechtervielfalt. Homophobie ist keine Meinung, sondern Gewalt und Machtausübung. Es reicht, wenn sich Lesben und Schwule gehasst und ausgeschlossen fühlen. Wenn Jugendliche in ihrem Internetforum lesen, dass sie getötet gehören und sehen, wie viel Zustimmung es dafür gibt. Wenn Kinder von schwulen oder lesbischen Eltern aus Talkshows erfahren, dass ihre Familien minderwertig sind und sie in dauernder Gefahr leben, Opfer von sexuellen Übergriffen zu werden. Wenn Transgender in der Schule lernen, dass es sie höchstens als genetisch wertlose Launen der Natur gibt? Das vertreten „neutrale“ Biologen und Evolutionsforscher öffentlich und werden dafür „mutig“ genannt! Den Opfern des „Gender-Gesinnungsterrors“ geht es so sehr um das „Kindeswohl“ und ihr religiöses und biologistisches Naturverständnis, dass sie eine erschreckend hohe und stabile Selbstmordrate von LGBT-Jugendlichen zu verantworten haben.

Homophobie ist kein individuelles Ereignis, es ist ein strukturell wirkendes. Niemand wird wegen einer Meinung entlassen, wohl aber von kirchlichen Arbeitgebern wegen Homosexualität. Niemand wird wegen einer Meinung verfolgt, wohl aber werden feministisch Publizierende und Gender-Forschende – mehrheitlich Frauen – massiv mit gewalttätiger Sprache öffentlich gedemütigt oder bis in den Privatbereich hinein von „Andersdenkenden“ bedroht. All diese Beispiele verbindet eins: Hier gerieren sich Täter als Opfer und klagen die Opfer dafür an, sich gegen sie auf demokratischer Rechtsebene zu wehren. Diese Hinterhältigkeit hat in Deutschland eine lange Tradition. Die jüdische Philosophin Hannah Arendt erkannte diese Strategie bereits 1950: „Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen.“

Stephanie Kuhnen

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