Bewegungsmelder

Der Saft der Zitronen

27. Sept. 2015

Die Aktivisten von damals sind es immer noch: aktiv und mutig. Aber eben auch alt. Und was kommt nach ihnen? Dirk Ludigs befürchtet das Schlimmste

Neulich war ich im Waldschlösschen, um Martin Dannecker über die Brüchigkeit gesellschaftlicher Toleranz referieren zu hören. Dannecker ist jetzt 73 Jahre alt, ficht aber eine schärfere Klinge als die meisten 40-Jährigen. Intellektuell, meine ich. Seine Worte aus dem Ur-Film der Bewegung sind heute so aktuell wie 1971, seine Bücher wie „Der gewöhnliche Homosexuelle“ setzen immer noch den Standard. Ich wünsche mir von Herzen, Dannecker möge 143 Jahre alt werden, damit ich ihm noch bis zu meinem 120. Geburtstag zuhören kann. Aber das garantiert mir keiner. Vielleicht will er schon in ein paar Jahren keine Seminare mehr halten. Und dann?

Dann müssen wir sowieso mal sehen. Denn auch das Waldschlösschen, die einzige LGBT-Bildungseinrichtung im Land, von der FAZ als Kaderschmiede des Homosexualismus gefürchtet, läuft auf ein Altersproblem zu. Rainer Marbach, Ulli Klaum und Wolfgang Vorhagen sind jetzt zwischen Ende fünfzig und Anfang Siebzig – und immer noch so aktiv wie am ersten Tag. Wie lange noch? Man will die FAZ nicht an die Wand malen, aber im zunehmend kalten Wind der Bildungsdebatten von heute ist die Angst nicht gänzlich unbegründet, die Akademie könnte ihre Gründergeneration womöglich nicht überleben.

Alte Herren – und auch ein paar alte Damen – wo man hinguckt. Auch bei der Kultur. Wieland Speck, Teddy-Miterfinder und seit Manfred Salzgebers frühem Tod Leiter der Panorama-Sektion, steht wie ein Monolith für queeres Filmschaffen auf der Berlinale. Speck ist Jahrgang 1951. Was passiert, wenn er in Rente geht? Stemmt sich dann noch einer mit so viel Vehemenz gegen den Druck der Kommerzialisierung dieses Festivals, besorgt dann noch einer einen Film über Trans*-Personen mit Behinderung aus Burkina Faso? Oder kriegen wir dann nur noch no Fats, no Fems, no Asians, wie in Emmerichs Stonewall-Massaker?

Und auch im weniger linken Spektrum dessen, was vor über vierzig Jahren mal als zweite deutsche Schwulenbewegung begann, sieht’s zunehmend licht und grau aus. Beim LSVD stapeln sich nicht nur die unerledigten Gleichstellungen, sondern auch die Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Manfred Bruns, der in Saarbrücken tapfer gegen eine homophobe Provinzfürstin argumentierte, ist stolze 81 Jahre alt! Volker Beck, Günther Dworek, Axel Hochrein, Henny Engels, alle weit jenseits der Fünfzig. Und von den Jüngeren ist eigentlich niemand bisher so richtig auffällig geworden. Implodiert also der Laden in ein paar Jahren wegen zunehmender Bedeutungslosigkeit – und dürfen wir bis dahin wenigstens heiraten?

Die Gründergeneration der frühen Siebzigerjahre und die Generation „Homolulu“, Teilnehmende des legendären Treffens von 1979, werden nicht mehr lange die Geschicke der Bewegung bestimmen. Das würde mir keine grauen Haare machen, wenn ich wüsste, für die Zukunft ist gesorgt. Aber ich habe den Verdacht: So ist es nicht! Und es gibt viel zu verlieren.

Um im rauer werdenden gesellschaftlichen Klima des bleiernen Merkellands den Kopf oben zu halten, muss man schneidenden Wind offenbar gewohnt sein. Das haben die Alten bis heute für sich klar. Ihr Erfolgsrezept war von Tag eins die Sichtbarkeit, nicht die Anpassung. Ihre Kritik richtete sich von Anfang an gleichermaßen gegen die repressive Gesellschaft und gegen die politische Passivität konformistischer Homosexueller. Heute müssen sich die Konformisten nicht mehr im Schrank verstecken. Das ist zu genau null Prozent ihr Verdienst, hält sie aber nicht davon ab, nun ihrerseits politisch aktiv zu werden, die in den Fünfzigern und Sechzigern völlig fehlgeschlagene Strategie der Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft erneut zu propagieren. Und dabei rede ich nicht nur von den üblichen Verdächtigen, den redlichen Onkel-Tom-Schwulen von der LSU, den im Selbsthass ersoffenen Dorfdeppen von den „Homosexuellen in der AfD“ oder 360-Grad-gewendeten Ultra-Katholiken. Von all denen erwarte ich nichts anderes.

Aber vom CSD e.V.? Ein Arbeitsgruppe des Vereins machte letzthin den Vorschlag, man könne angesichts der Proteste sogenannter „besorgter Eltern“ den umstrittenen Begriff „sexuelle Vielfalt“ doch durch „menschliche Vielfalt“ ersetzen, das entziehe den GegnerInnen die Angriffsfläche und es gehe doch auch um soviel mehr als nur Geschlechtsverkehr. Eine wirklich obskure Idee, vor allem für eine Organisation, die in Deutschland eigentlich das Erbe des Aufstands in der Christopher Street lebendig halten soll. Es wundert mich kein bisschen, dass der größte Aufschrei gegen diese vorauseilende Frontbegradigung von einer Gruppe kam, die sich BISS nennt: Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren.

Offenbar haben diese Zitronen noch genug Saft. Was aber machen wir bloß, wenn die einzige Erinnerung an Stonewall ein Film von Roland Emmerich sein wird? Ich befürchte: Sauer aufstoßen!

Dirk Ludigs

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