Bühne

Herr Marie und Frau Clavigo am Deutschen Theater

13. Nov. 2015
© Arno Declair

Klassiker-Dekonstruktion am Deutschen Theater: Stephan Kimmig macht aus Goethes „Clavigo“ Pop-Theater mit Geschlechtertausch

13.11 – So sind die Typen, die irgendwas mit Kunst und Medien machen, nun mal, wenn sie auf Ruhm und Erfolg schielen. Für eine gute Pointe verkaufen sie auch mal ihre Großmutter und für einen literarischen Wurf wird ohne Zögern die eigene Liebesbeziehung ausgeschlachtet. Mit derlei Arschlochverhalten – und auf Kosten seiner Geliebten Marie – schafft es so auch Goethes Dramenheld Clavigo zu erstem schriftstellerischen Ruhm. Das schreit geradezu nach einer trendig aktualisierten Neufassung. Stephan Kimmig, der als Hausregisseur des Deutschen Theaters dort zuletzt „Wassa Schelesnowa“ und „Don Carlos“ in Szene setzte, hat das nun erledigt.

Ihn hat allerdings nicht „der kleine bürgerliche trauerspielige Plot vom bösen Wolf und dem Opferlamm“ interessiert, wie er gegenüber SIEGESSÄULE erklärt, sondern nur bestimmte Aspekte von Goethes in acht Tagen heruntergeschriebenem Schnellschuss: nämlich „die Rolle des Künstlers zwischen Eitelkeit, Arroganz, Leere und Vereinsamung“. Denn Clavigo, wie Kimmig ihn sieht, ist einer von denen, die nicht nur für die eigene Selbsterfahrung alles tun, sondern sich auch für den (Kunst-)Markt hemmungslos selbst ausbeuten: „Der Künstler und der moderne Arbeitnehmer haben viele Überschneidungen – schneller, höher, bunter, irrer. Alles aus sich herausholen.“

Seine Inszenierung wirkt dabei selbst wie eine Art pop-theatrale Leistungsschau: Hier haben Slapstick und Clownerie, Videosequenzen und Soundinstallationen (Polly Lapkovskaja von der Münchner Band Pollyester), Schwertkampf und Manga-Comics, Tanzeinlagen und Spoken-Word-Performances gleichermaßen ihren Platz. Als ungezielte Luftsprünge an einen modernen Kunstbegriff“ bezeichnet Kimmig diese Herangehensweise, „eine Annäherung an die Egozentrik und Selbstbespiegelung des Künstlers“.

„Man muss sich auf die Vorstellung einlassen, frei von Erwartungen an Herrn Goethe“, gibt Kimmig dem Berliner Publikum mit auf den Weg. Bei den Salzburger Festspielen, wo diese Koproduktion im August Premiere hatte, war mancher Rezensent wenig überzeugt oder schlicht überfordert. FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmaier etwa konnte nicht anders, als mit einer wütenden Suada zu reagieren. Stephan Kimmig nimmt’s sportlich und kontert. Für ihn ist der „Frankfurter Großkritiker“ ein „reaktionärer, desinteressierter Nicht-Hingucker“, ein „in seiner Eitelkeit unerträglicher Bescheidwisser“.

In Berlin, so ist sich Kimmig sicher, wird man ganz bestimmt nicht derart spießig reagieren. Auch nicht auf die geschlechterkonträre Besetzung der beiden Hauptfiguren: Denn Clavigo wird von Susanne Wolff, Marie von Marcel Kohler verkörpert. Doch welche Botschaft will Kimmig mit diesem Geschlechtertausch vermitteln? Dass Frauen heute emanzipiert genug sind, um das „Bad Girl“ zu geben, und auch Männer selbstzerstörerisch an der Liebe leiden dürfen?

„Der böse Mann, die arme Frau – das ist alt und abgenudelt. Eine schon längst uninteressante Geschlechterkonstellation“, sagt Kimmig. „Es gibt nix Langweiligeres als die olle abgestandene Kamelle: Heterosexueller Mann kann sich nicht entscheiden zwischen Karriere und Liebe.“ Viel spannender findet er die Umkehrung: wenn nämlich Frauen mit den Männern spielen und sie für ihre eigenen erotischen wie egozentrischen Zwecke benutzen – so wie in seiner Version von Goethes bürgerlichem Trauerspiel die Clavigo ihren Marie. „Frauen müssen heterosexuelle Männer betrügen und ausnutzen“, untermauert Kimmig seinen Anstoß zur Neuordnung der Geschlechterhierarchien. Denn nur so würden die Kerle lernen, dass sie nicht so wichtig sind, wie sie glauben.

Axel Schock

Clavigo, mit Susanne Wolf, Marcel Kohler u. a., Regie: Stephan Kimmig, 13.11., 19:30 (Premiere), 17., 23.11., 20:00, Deutsches Theater

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