Politik

„Wie Freiwild“: LGBTIs in der Türkei

27. Nov. 2015
Gay Pride Istanbul 2011, Taksim-Platz © CC BY-SA 3.0 Jordy91

Der LGBTI-Community in der Türkei stehen weiter harte Zeiten bevor, denn das Ergebnis der türkischen Parlamentswahlen vom 01.11. ließ die islamisch-konservative AKP gestärkt zurück. Ein Stimmungsbild von SIEGESSÄULE-Autorin Melanie Götz

„Die Stimmung ist gedrückt, es herrschen große Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung“, fasst Ipek Ipekçioğlu, lesbische Kreuzberger Aktivistin und Künstlerin mit Projekten von Berlin bis Istanbul, die Situation nach der Wahl in der Türkei zusammen. Alle, die hier wie in der Türkei nicht damit gerechnet hatten, dass die islamisch-konservative AKP nach der Wahlniederlage im Juni ihre absolute Mehrheit zurückerobert, seien einigermaßen fassungslos, berichtet sie von ihren Eindrücken. Bei der türkischen Parlamentswahl am 1. November kam die seit 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP – Adalet ve Kalkınma Partisi) auf 49 Prozent der Stimmen. Wahlprognosen hatten übereinstimmend lediglich um die 40 Prozent vorhergesagt.

Aufgrund bisheriger Erfahrungen mit dem repressiven Klima, in dem Oppositionelle, JournalistInnen und regierungskritische Menschen in den vergangenen Jahren zunehmend systematisch eingeschüchtert wurden, befürchtet Ipek, dass auch Hassverbrechen gegen LGBTIs in der Türkei zunehmen werden. Bereits in der Zeit vor der Wahl sei es vermehrt zu Angriffen auf Trans*personen, aber auch auf Schwule und Lesben gekommen, erzählt sie: „Übergriffe von sogenannten ‚Gangs‘ von AKP-Anhängern verfolgen und marginalisieren gesellschaftliche Gruppen wie Kurden, LGBTIs und systemkritische Leute“. Da die Polizei deren Angriffe häufig gar nicht ahndet, fühlten sich die betroffenen Gruppen „wie Freiwild“, fasst Ipek die akute Bedrohungslage zusammen. „Ich denke, wenn ich künftig in der Türkei oder in Istanbul bin, kann ich nicht mehr so offen mit meiner Freundin Händchen haltend auf der Straße herumlaufen“, meint sie zur Situation.

Die gefühlte Bedrohung hat reale Hintergründe – wie die zahlreichen Angriffe auf Büros der linken und prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der Vorwahlzeit zeigen. In der Türkei ließ die Polizei die Täter häufig gewähren, ohne einzuschreiten. Anfang Oktober gab es einen solchen Brandanschlag auch auf ein Berliner Wahlbüro der jungen, progressiven Partei. Die HDP setzt sich für Frauenrechte und LGBTIs ein und hat unter Letzteren viele AnhängerInnen. Hinter den Attacken hier wie dort werden Einschüchterungsversuche von fanatischen Anhängern der Regierungspartei oder der Ultranationalisten vermutet.

Die AKP hat unter ihrem Minister- und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan („Homosexualität ist gegen die Kultur des Islam“) nach und nach alle entscheidenden Ämter in den staatlichen Institutionen mit Regierungs- und Parteiloyalen besetzt. Der lange Arm der AKP und der Einfluss ihrer weltanschaulichen Haltung, die von vielen TürkInnen wie Türkeistämmigen in Deutschland als aufgezwungene kulturelle Reislamisierung erlebt wird, ist über staatliche Institutionen wie beispielsweise die Religionsbehörde DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) auch hier zu spüren. Im vergangenen Jahr war auf Druck aus der Türkei ein Gespräch unter Muslimen der Berliner Sehitlik-Moschee und LGBTI-Organisationen kurzfristig abgesagt worden. Auch im Verein Türkiyemspor, der lange für Toleranz gegenüber LBGTIs engagiert war, hat sich das Stimmungsbild verändert, der wachsende Einfluss der Islamisch-Konservativen machte sich bemerkbar.

Die Berichte darüber, wie Polizei und Justiz in der Türkei mittlerweile ganz offen gegen kritische Medien, Journalisten und gesellschaftliche Gruppen vorgehen, die nicht auf Regierungslinie sind, lässt die Situation für Minderheiten nach der Rückeroberung der absoluten Mehrheit der AKP prekär erscheinen. Wer Kritik am selbstherrlichen und autoritären Regierungsstil der Partei äußerte, musste bereits in der Vergangenheit mit Angriffen, Verboten und Polizeibrutalität rechnen. Das zeigte die gewaltsame Niederschlagung der Gezi-Proteste 2013 durch die Polizei, mit Toten und Verletzten. Im Juni dieses Jahres löste die Polizei den Istanbuler Gay Pride mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen auf. Die Parade war zuvor nach Angaben der Veranstalter kurzfristig vom Gouverneur mit der Begründung verboten wurden, dass sie in den heiligen Fastenmonat Ramadan falle.

Homosexualität ist in der Türkei nicht verboten. Repressionen gegen die queere Bewegung haben Zülfukar Çetin zufolge jedoch insbesondere unter der AKP-Regierung „vermehrt stattgefunden“, seit 2007 in „verschärfter“ Form. Die Bewegung wurde in dieser Zeit jedoch auch sichtbarer, stellt der Soziologe, der zur Geschichte der LGBTI-Bewegung in der Türkei forscht, in seinem Bericht für die Heinrich-Böll-Stiftung abschließend fest. Wendepunkt waren die Gezi-Proteste: LGBTIs hatten einen eigenen Demonstrationsblock gebildet und schafften es, sich breiter zu vernetzen und sich Solidarität durch andere politische Gruppen zu sichern, die ebenfalls den autoritären Regierungsstil der AKP und ihre gesellschaftspolitische Agenda zurückweisen. Dazu gehörten Linke, FeministInnen, AnarchistInnen und sogar die Antikapitalistischen Muslime. Seitdem kann die LGBTI-Bewegung auf breitere Solidarität und Unterstützung zählen, bestätigt auch Ipek: „Die LGBTIs waren in vorderster Front bei den Gezi-Protesten dabei. Die Bewegung hat dafür seither sehr viel positiven Beifall von anderen Gruppierungen bekommen, sehr viel Hochachtung und Respekt – sogar von Leuten, die vorher gegen sie waren. Die haben erkannt: die Queers kämpfen auch für unser aller Freiheit.“ Ein kleiner Hoffnungsschimmer bleibt also, trotz des autoritären politischen Klimas in der Türkei und des Drucks auf die Community.

Melanie Götz

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