MUSIK

Glückliche Fügungen: Ulrike Haage auf Tour

30. Nov. 2015

Bei all dem Zuspruch, den seit Dekadenbeginn instrumentale Klaviermusik abseits der Jazz- und Klassik-Stammklientel erfährt, wäre für Ulrike Haage ein Ehrenplatz als „Godmother der Neo-Classical-Szene“ denkbar. Ob der erklärten Schubladen-Gegnerin (die sich mit Freigeistern wie Carla Bley oder Moondog immer mehr identifizieren konnte als mit ausgestellter Artistik) diese Position behagen würde, ist jedoch fraglich. Gleichwohl könnte es für besagtes Publikum eine Offenbarung sein, mittels der vielschichtigen Diskographie von Ulrike Haage zu erfahren, was auf den Gebieten „Präpariertes Klavier“, „Dezente Electro-Trance“ und „Bezaubernde Duett-Konstellation“ noch für Feinarbeit möglich ist. Die titelgebende Sogwirkung ihres aktuellen Albums „Maelstrom“ lässt sich auch all ihren vorangegangen CDs attestieren. Doch in seiner Balance aus klassischem Solo Recital und funkensprühenden Kooperationen mit neuen und altbewährten SpielpartnerInnen erweist es sich als ideales Einstiegswerk in die Welten dieser Klangkünstlerin, deren Handschrift schon in den cineastischen Pop-Kreationen der Rainbirds (mal wieder „Real“ hören!) unverkennbar war.
Die Hörspiel-Redaktionen rund um die Republik schwören sowohl auf ihre Partituren, als auch auf die musikalische Herangehensweise in ihren Eigenproduktionen (gerade bearbeitet sie Gertrude-Stein-Essays zum Thema „Geld“). Und nachdem Doris Dörrie als Goethe-Instituts-Stipendiatin in Japan  „For All My Walking“, jene (in der SIEGESSÄULE schon vorgestellte) akustische Kyoto-Erkundung mit Eric Schaefer, gleich dreimal live gesehen hat, ist sie an Ulrike Haage mit der Bitte herangetreten, für ihren nächsten Spielfilm den Soundtrack zu komponieren („Grüße aus Fukushima“ kommt im Februar 2016 in die Kinos).

SIEGESSÄULE-Autor Markus von Schwerin hat nach mitreißenden Konzerterlebnissen im Berliner Bechstein-Haus und in der Volksbühne mit der Pianistin sprechen können und rät, am 30.11. den Weg nach Hamburg
nicht zu scheuen, wo nochmal das „Maelstrom“-Programm in kompletter Bandbesetzung auf die Bühne kommt. Als Solistin wird Ulrike Haage am 12.12. im Rahmen der Berliner „Jazz Units“ im Grünen Salon zu sehen sein.

Ulrike, deine Beschäftigung mit der japanischen Kultur scheint auch dein neues Album geprägt zu haben. Zumindest trägt das Eröffnungsstück einen japanischen Titel. 
Stimmt, „Harugasumi“ bedeutet „Frühlingsnebel“. Es ist aber nicht auf einer der Japan-Tourneen, sondern in Görlitz entstanden, wo ich mich im Mai 2014 mit meinen Keyboards in ein altes Haus einquartiert hatte. Der Frühling war damals ziemlich kalt. Ich hatte immer das Gefühl, dass sich jeden Augenblick mit voller Wucht die Blätter enfalten müssten – und dann wurde es doch wieder kühl. Es ist sozusagen mein persönlicher „Sacre du printemps“.  So konnte ich das Stück aber natürlich nicht nennen ...

... denn da kam dir Igor Strawinsky ein paar Jahrzehnte zuvor.
So gab ich ihm dann doch einen japanischen Namen. Japan hat mich also nicht los gelassen, obwohl ich in Görlitz in einer völlig anderen Umgebung war. Die Stadt lernte ich kennen, als ich für die Film-Premiere von „Grand Budapest Hotel“, der ja zum Teil in Görlitz gedreht wurde, dorthin gefahren bin. Die Innenstadt unterscheidet sich völlig von anderen deutschen Städten mit intaktem Stadtkern: eine ganz eigenwillige mediterrane Architektur, die fast an Italien erinnert. Mein Kompositionsort war die „Peregrinus-Herberge“, eine alte Kirchenmusikschule, wo ich Zugang zu zwei Flügeln, einem Cembalo und einer Orgel hatte, wann immer ich wollte – sofern da nicht gerade ein Kirchenorganist am Üben war. Das war extrem inspirierend, denn die sehr alten Klaviere, die da standen, wollten erst mal gezähmt werden. Ideale Bedingungen, sich zu konzentrieren! Ich habe sehr viel Output gehabt und damit die Grundlage für die „Maelstrom“-CD geschaffen.

Das spieluhrartig präzise Titelstück mit seinen jazzrockigen Akkorden besticht durch eine perkussive Vielfalt, die schlicht atemberaubend ist.
Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit den klassisch ausgebildeten Schlagwerkerinnnen Brigitte Haas und Almut Lustig?

Die verdanke ich dem Perkussionisten vom Deutschen Symphonieorchester,
der mir zwei seiner besten Schülerinnen empfahl. Er meinte, sie würden genau in diese Mischung aus klassischem Anschlag und Groove passen. Und so war's dann auch: beide haben ein Riesenreservoir an Klangfarben, die sie mir alle erst einmal vorgeführt haben. Vor den Aufnahmen haben wir stundenlang Schlegel ausprobiert und den einzelnen Stimmen die richtigen Instrumente zugeordnet. Die Vorbereitungsphase war äußerst intensiv – und ist wohl auch typisch für die klassische Perkussionswelt.

Einige deiner Partituren sind ja schon in Buchform („Pianoscope“, 2004) erschienen und die jüngsten Kompositionen können auf den Konzerten als individuell gestaltete Notenblätter erworben werden. Hast du denn als Albert-Mangelsdorff-Preisträgerin früher im klassischen „Jazz-Sinn“
improvisiert? Oder gab es bei dir immer ein komponiertes Fundament?

Auf der Bühne hat immer beides existiert. Aber auch auf den Platten gibt es Freiräume für Variationen: etwa wenn ich eine Note zweimal anschlage oder „Ghost Notes“ spiele. Das sind Töne, die man manchmal nicht hört, aber wichtig für das rhythmische Gewebe eines Stücks sind. Das ist das, was für mich den Swing ausmacht. Da wird eine Phrase so leise vom Anschlag gespielt, dass sie eigentlich nur als Brückenton funktioniert zum nächsten Ton. Doch der ist für den Groove extrem wichtig, weil der nächste Ton, der dann kommt, ganz anders klänge, wenn dieser Zwischenton nicht da wäre.

Apropos Groove: Sowohl dein letztes Solo-Album „In:Finitum“ als auch das gemeinsam mit Eric Schaefer entstandene „For All My Walking“ wurde nur auf akustischen Instrumenten eingespielt. Auf den neuen Stücken „Umbra“ und „As Nisi Masa“ pulsiert und wummert es aber wieder eindeutig elektronisch ...
Ja, dazu lud ich mit Christian Meyer einen früheren Weggefährten ein, mit dem ich in den späten 1990ern die Bühnenmusik für eine Choreographie von Felix Ruckert geschrieben hatte. Dieses „Ring“-Projekt war sehr beliebt beim Goethe-Institut, wir sind damit jahrelang um die Welt getourt. Christian arbeitet fast nur digital und gab mir zwei Stücke, die ich nach Lust und Laune ergänzen konnte. Die „Chill“-artigen Elemente habe ich einfach so belassen, denn ich fand das gut in seiner Konsequenz: kein House, kein Deep House, und nie so, dass es einen zwingt. Sich dazu zu bewegen, verlangt schon Fantasie ab. Schlichte Dancefloor-Bedürfnisse erfüllen diese Stücke nicht. Und doch sind sie ungemein eingängig.
Ich könnte mir vorstellen, dass einige Leute aus dem Jazz deshalb die Nase rümpfen werden. Dabei hat Keith Jarrett schon vor 40  Jahren Elemente eingeflochten, die nichts mehr mit Standard-Improvisation zu tun hatten. Dass ich sein „Köln Concert“ schon als 16-Jährige kennenlernte, lag an meinen Eltern, die große Jazz-Fans waren und sich immer das Neueste besorgten. Und dann hatte ich auch eine Tante aus Amerika, die bei ihren Besuchen immer die aktuellesten Sachen aus den USA mitbrachte. Wenn sie zu uns kam, war das immer ein Plattenfest! Sie war Jazz-Fan, aber auch Pop-Fan. Es gab da einfach eine Zeit, wo das gleichberechtigt existierte. Und das hat sich bei mir manifestiert.

Dann ist es wohl kein Zufall, dass auf „Maelstrom“ mit dem Trommler Tim Lorenz auch ein Partner aus Rainbirds-Tagen mit von der Partie ist?
Doch! Dass „Maelstrom“ die CD mit den Wiederbegegnungen langjähriger Weggefährten geworden ist, war nicht immer geplant: Ich habe Tim einen Tag vor den Aufnahmen im Prenzlauer Berg zufällig wieder getroffen und es war so herzlich, dass sich sofort in meinem Kopf dieses Stück („Valzer Con Calore“, AdV.) weiterentwickelte, das ich für einen kranken Freund geschrieben hatte. Das ergab sich einfach so, das musste so sein!

Interview: Markus von Schwerin

Ulrike Haage live (solo), 12.12., Volksbühne/Grüner Salon

Ulrike Haage: Maelstrom (Blue Pearls Music/Indigo), jetzt erhältlich, ulrikehaage.com

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