Berlin

„Unser Ziel: Sich wieder handlungsfähig fühlen”

13. Feb. 2016
#BIKEYGEES © Tanja Schnitzler

Seit einigen Monaten können geflüchtete Frauen mit einer Gruppe Ehrenamtlicher lernen, Fahrradzufahren. Eine besondere Aktion, die weit mehr und eigentlich sogar etwas ganz anderes als eine „Freizeitbeschäftigung". Denn die Geflüchteten bekommen so die Gelegenheit, sich mit anderen Frauen zu vernetzen und erlangen mehr Selbstbestimmtheit. Wie das Projekt entstand und was noch daraus werden soll, erklärt Annette Krüger, eine der Initiatorinnen der #BIKEYGEES, im Interview mit SIEGESSÄULE.DE

Annette, ihr bringt geflüchteten Frauen Fahrradfahren bei. Seit wann macht ihr das?
Die Planung begann ungefähr September 2015, konkret war der erste Trainingstermin dann Anfang November, direkt in der Notunterkunft (NuK) Moabit, Kaltakquise sozusagen …

Wer macht das mit dir zusammen und wie seid ihr auf die Idee gekommen?
Ich habe einen Bericht aus einer anderen Stadt auf Facebook gesehen und gefragt, ob es das auch hier gibt. Das war dann der Startschuss für mich. Es begann in unterschiedlicher Besetzung. Jetzt sind Dr. Anne Seebach und ich die 100 Prozent ehrenamtlichen Initiatorinnen von #BIKEYGEES. Anne und ich haben in der NuK Moabit angefangen. Wir finden es unbedingt wichtig, dass Kräfte gebündelt werden und nicht alle separat vor sich hinwerkeln. Der Plan ging direkt auf, es war geradezu ein Katalysator! Seitdem ist unsere Aktion enorm gewachsen. Unverzichtbar dazu kommt das private Engagement: Zeit, Material, neben dem Kernteam von uns drei freiwilligen Co-Founderinnen gibt es einen Pool von etwa 100 HelferInnen. Außerdem gibt es Partnerschaften mit lokalen Fahrradläden und -werkstätten, für Sonderrabatte und kostenfreie Reparaturen. Wir haben auch Kontakte zum Beispiel mit dem Profi-Frauen-Fahrradteam „Velonistas“, I Bike Berlin und Rückenwind e.V.

Warum findet ihr es wichtig, dass geflüchtete Frauen das Radfahren lernen?
Es geht ganz praktisch darum, von A nach B zu kommen. Öffentliche Verkehrsmittel sind teuer. Außerdem war uns jenseits des interkulturellen Aspektes von Beginn an wichtig, die Möglichkeit des Radelns als nachhaltigen Ansatz zur Gewährleistung von Mobilität und Unabhängigkeit zu betrachten. Es soll Perspektiven und Hoffnung derer bestärken, die durch den Verlust ihrer Heimat eigene Handlungsräume verloren haben. Daher betrachten sich #BIKEYGEES als ganzheitlichen Ansatz, der Aspekte wie Empowerment, CO2-neutrale Mobilität, Bewegung an der frischen Luft, Lebensfreude und gemeinsame Erfolgserlebnisse vereint. Sprache lernen mit Bewegung und Freude verbunden. Abbauen von Berührungsängsten auf allen Seiten. Es macht einfach verdammt viel Spaß. Für alle Seiten.

Wie sieht der Unterricht aus?
Der Veranstaltungsrahmen wird von dem Kernteam organisiert, das eigene Fahrräder sowie Werkzeug zur Verfügung stellt (Sattelhöhe und Lenker anpassen). Die teilnehmenden Frauen stammen vorwiegend aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, jedoch nahmen auch Frauen aus Marokko, Armenien und Brasilien, bzw. jede Frau, die Fahrrad fahren lernen möchte, teil. Die Volunteers stammen aus Island, Singapur, Großbritannien, USA, Kanada, der Türkei, Russland, Korea und Deutschland. Durch unsere persönlichen Netzwerke und dank der Partnerschaft mit „Give Something Back to Berlin“ verfügen wir über einen großen Pool ehrenamtlicher HelferInnen. Oft werden zwei bis drei Volunteers benötigt, um eine Radanfängerin sicher abzustützen! Ein bemerkenswerter Nebeneffekt der Trainings ist, dass viele der Frauen sich über das Radeln hinaus vernetzen und gemeinsame Unternehmungen angehen. So hat sich u.a. ein syrisch US-amerikanisches Sprachtandem gebildet; eine Deutschlehrerin gibt Teilnehmerinnen Deutschunterricht. Aber auch gemeinsames Kochen, Chor- und Theaterbesuche sind an der Tagesordnung. Eine Frauenorganisation, die Bildungs- und Karriereberatung für ‚Frauen mit Migrationshintergrund’ anbietet, hat bereits regen Zulauf durch unser Netzwerk erfahren. Was mich besonders freut, die Frauen identifizieren sich mit dem Projekt. So hat zum Beispiel eine syrische Teilnehmerin, die Illustratorin ist, ein Logo für uns entworfen. Das ist großartig. Genau das ist unser Ziel: Sich wieder handlungsfähig fühlen.

Ihr wollt, dass das Projekt sich weiterverbreitet.
Wir bekommen häufig aus anderen Stadtteilen Anfragen, die wir gar nicht alle bedienen können. Aber es gibt Leute, die sich auch dort engagieren – sozusagen Ableger etablieren – wollen. Der Plan ist, eine Art ,Bedienungsanleitung‘ zu erstellen und weitere Notunterkünfte mit Rädern und Equipment und Freiwilligen auszustatten.

Wo braucht ihr ganz konkret Hilfe?
Natürlich brauchen wir Spenden. Dafür haben wir eine Spendenseite auf Betterplace.org eingerichtet. Auch ein einfaches „Like“ auf unserer Facebookseite und das Teilen der Seite ist sehr hilfreich für uns. Natürlich ist auch ganz konkretes Engagement gefragt: Schieben, durchführen, weitersagen, mitlachen. Dafür kann mit mir direkt oder über Facebook Kontakt aufgenommen werden. Außerdem brauchen wir gut erhaltene Räder, besonders Klappräder wegen der flexiblen Größe wären fantastisch oder BMX-Räder, da sie weniger anfällig für Defekte sind.

Was sind die wichtigsten Erfolge des Projekts für dich persönlich?
Jede einzelne Frau, die den #BIKEYGESS ihr Vertrauen schenkt und sich an deren Hand auf das Wagnis einlässt, sich auf zwei dünne Reifen zu begeben, ist ein Erfolgserlebnis für alle Beteiligten. Wenn dabei auch noch viel gelacht wird und am Ende eine sogar Rad fahren kann, hat sich das Engagement bereits ausgezahlt. Ich bin stolz, dass unsere Facebook-Gruppe bereits auf über 950 Likes gewachsen ist und unsere Crowdfunding-Kampagne auf Betterplace.org erfolgreich war. Wir bekommen viele positive Zuschriften und Presseanfragen aus allen Winkeln der Erde, was bereits in diesem frühen Stadium zu umfangreicher medialer Präsenz führte: UNHCR Facebook Seite (u.a. mit einem Posting über unsere Aktion von Angelina Jolie as Goodwill Ambassadeur), Deutsche Welle, RBB, ARD-Tagesschau, AJ+ mit über 1,6 Millionen Views (Lateinamerika, Asien, Südeuropa), Huffington Post etc. und damit zu einer breiten Streuung des Handlungsansatzes. Und was mich natürlich besonders freut: 10 Frauen konnten mit Fahrrädern und Sicherheitsausrüstung ausgestattet werden, nachdem sie das Fahren bei uns erlernt haben.

Interview: Christina Reinthal

Infos unter: www.bikeygees.org, www.facebook.com/bikeygeesberlin
Kontakt:
annette@bikeygees.org

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