POLITIK

„Anderssein ist kein Verbrechen“

17. Apr. 2016
Ahmed Benamor, Aktivist © privat

Tunesien hat seit 2014 eine neue, an Demokratie und Menschenrechten orientierte Verfassung – dennoch werden LGBTs weiter ausgegrenzt und verfolgt. Melanie Götz traf auf dem taz-Kongress taz.lab 2016 Anfang April Ahmed Ben Amor und sprach mit ihm über die Situation in Tunesien. Der 19-Jährige ist Ko-Vorsitzender von Shams, der ersten tunesischen LGBT-Organisation. Obwohl er, ähnlich vielen seiner MitstreiterInnen, nach dem Outing fast alles verloren hat – er wurde vom Gymnasium verwiesen, von Familienangehörigen und Polizei gefoltert und mehrfach auf der Straße attackiert – kämpft er trotz Todesdrohungen für die Rechte von Lesben, Schwulen und Trans*personen in Tunesien.

Wofür steht Shams und wie seid ihr organisiert?
Unser Verein ist die erste zugelassene LGBT-Organisation in Tunesien, das war ein langer Kampf gegen viele Widerstände. Shams heißt im Arabischen Sonne – für uns steht es sinnbildlich für die Liebe, die keine Grenze oder Religion kennt, und für sozialen Zusammenhalt und Akzeptanz. Unser Motto lautet: „Liebe ist kein Verbrechen“.  In unserem Büro in Tunis sind wir zehn Aktivisten, die direkt vor Ort aktiv sind und sich treffen. Fünf Frauen und fünf Männer, die Gleichheit der Geschlechter ist uns wichtig. Landesweit sind wir rund 30 Aktivisten und Aktivistinnen – Schwule, Lesben, Trans* und solidarische Heterosexuelle.

Wofür setzt ihr euch ein und was wollt ihr erreichen? Der Verein kämpft für die Entkriminalisierung der Homosexualität in Tunesien und setzt sich für Aufklärung über LGBTs und ihre Rechte ein. Dafür, dass die in der Verfassung verankerten allgemeinen Menschenrechte respektiert und umgesetzt werden – Anderssein ist normal und kein Verbrechen. Wir wollen mehr Sicherheit für LGBTs erreichen. Dazu gehört die Abschaffung des Artikels 230 des Code Pénal (Strafgesetzbuch), der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt und als  sogenannte „Angriffe auf die Sittlichkeit“ verfolgt.  Das kann mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Die Polizei verhaftet immer wieder Leute und foltert sie, demütigt sie unter anderem mit dem sogenannten „Anal-Test“, bei dem männliche Homosexuelle auf vollzogenen Analverkehr hin als „Beweis“ ihrer Homosexualität „geprüft“ werden. Sie nennen das „wissenschaftlich“, aber tatsächlich ist es Folter – vergleichbar mit den sogenannten „Jungfräulichkeitstests“ an Frauen und Mädchen (die während des arabischen Frühlings bspw. vom ägyptischen Militär durchgeführt wurden; Anm. d. Red.).

Häufig wurden und werden homosexuelle Handlungen allein zwischen Männern unter Strafe gestellt. Wenn ich das richtig verstanden habe, werden in Tunesien auch lesbische Handlungen strafrechtlich verfolgt? Ja, das bezieht sich sowohl auf männliche als auch weibliche Homosexualität. Wenn heute zwei junge Frauen Hand in Hand auf der Straße gehen, werden sie genauso verdächtigt, gegen Artikel 230 zu verstoßen und können verhaftet werden.

Du sprachst von zweifacher Ausgrenzung und Verfolgung: durch den Staat und die Gesellschaft. Womit seid ihr konfrontiert? Das Schlimmste ist die gesellschaftliche Bigotterie, die ganze Heuchelei, nach der alles, was nicht ins Bild passt, unter den Teppich gekehrt und im Verborgenen gehalten wird. Solange du den Mund hältst und dich versteckst, geht es. Offen schwul oder lesbisch zu leben ist sehr gefährlich. Die Islamisten rufen zur Bekämpfung der „Perversion“ auf und erzeugen ein gesellschaftliches Klima der Jagd auf Homosexuelle. Der Einfluss der Islamisten trifft auf Politiker und eine verunsicherte  Bevölkerung in einer Phase der Neuorientierung, die mit Ausgrenzung von LGBTs und Nichtbeachtung der Menschenrechte reagieren. Die meisten Tunesier waren so glücklich über die neue Verfassung – die wird aber nicht respektiert, das ist das große Problem!

Du hast im Podiumsgespräch als Grund der Ausgrenzung von LGBTs den tief in der Gesellschaft verankert Zusammenhang von Sexismus und Homophobie benannt. Was bedeutet das konkret für Lesben, Schwule, Trans*? Es herrscht eine widersprüchliche Ansicht der „normalen“ Verbindung Mann-Frau bei uns vor. Und die Widersprüche der tunesischen Gesellschaft sind nach der Verabschiedung der neuen Verfassung noch stärker als in der sonstigen arabischen Welt, weil wir unter dem Druck zwischen einer gesellschaftlichen Öffnung und religiöser Radikalisierung stehen. Lesben sind gleich zweifach betroffen – als Frau und als Lesbe beziehungsweise Trans*. Religion, patriarchale Gesellschaft und ein hypermaskulines Männlichkeitsbild sind die entscheidenden Themen. In der patriarchalen Heuchelei werden Frauen alleine als Objekte für Männer betrachtet, Sexualität stellt dabei ein sehr großes Tabuthema dar, in der die Frau eigentlich keine Rolle spielt – sie wird zum lediglich empfangenden Gefäß für die Sexualität des Mannes degradiert. Zeigt die Frau Gefallen an Sex, ist sie nach gängigen Vorstellungen „eine Hure, die daran gewöhnt“ ist, denn sie soll am besten sexuell passiv bleiben. Lesben bedrohen die patriarchale Vorstellung von Weiblichkeit. Als schwuler Mann werde ich dagegen häufig „beschimpft“, eine Frau zu sein – als wäre „Frau“ eine Beleidigung. In einer Gesellschaft wie der unseren, wo man vor allem leiden muss, um Frau zu sein,  fasse ich solche Sprüche eher als Anerkennung auf – auch als schwuler Mann muss ich jeden Tag kämpfen, wenn ich vor die Türe gehe und belästigt oder angegriffen werde. Für Lesben kommt noch die sexistische männliche Vorstellung à la „oh, zwei Frauen miteinander ...“ dazu, die viele sehr erregend finden – die gleichen Männer, die Lesben attackieren. Als Frau erfahren Lesben natürlich auch die sexuelle Gewalt, die weit verbreitet ist. Und Lesben werden von ihrer eigenen Familie vergewaltigt, wenn diese sie in eine Ehe zwingt. Schwule gelten vor allem als ekelhaft, weil sie das dominante Bild von Männlichkeit in Frage stellen. Auch die meisten homosexuellen Männer sind verheiratet, um nicht aufzufallen und Angriffen zu entgehen.

Wie arbeitet Shams politisch für die Rechte von LGBTs? Wir dokumentieren Fälle von Verfolgung und Übergriffen, verbaler und physischer Art, das ist sehr wichtig, um das Ausmaß der Ausgrenzung aufzuzeigen. Uns erreichen fast täglich 10 bis 20 Nachrichten von Menschen, die Probleme bekamen wegen „Angriffs auf die Sittlichkeit“. Wir sind in den sozialen Netzwerken aktiv, via Mail oder Facebook kontaktieren uns Betroffene, die beleidigt, angegriffen oder verhaftet wurden. Dazu führen wir auch Kampagnen durch wie „Free Marwan“ („Marwan“ ist das Pseudonym eines schwulen Studenten, der verhaftet und misshandelt wurde, weil die Polizei auf dem Handy eines schwulen Mannes eine Nachricht von ihm fand; Anm. d. Red.) um Öffentlichkeit zu erzeugen. Wir produzieren und stellen Aufklärungsvideos online, berichten Journalisten und Menschenrechtsorganisationen von unserer Arbeit, um zum Thema Ausgrenzung von LGBTs zu sensibilisieren und aufzuklären und stoßen so Diskussionen an. Und wir arbeiten daran, unser soziales Netz auszubauen. Leider haben wir nicht die Kapazitäten, würden zukünftig aber gern mehr LGBT-Menschen helfen, indem wir ihnen Räume vermitteln, wenn sie zu Hause rausfliegen oder ihre Arbeit verlieren.

Interview: Melanie Götz

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