Politik

„Progressisten, aller Länder, vereinigt Euch!“

29. Nov. 2016
Carlon Emcke lud den Französischen Philosophen Didier Eribon in ihren „Streitraum“ © Andreas Labes

Zu ihrer monatlichen Diskussionsveranstaltung „Streitraum“ hatte Carolin Emcke am letzten Sonntag den französischen Soziologen Didier Eribon geladen

Der Andrang war groß am Sonntag in der Schaubühne. Zu Gast bei Carolin Emcke war Didier Eribon, dessen autobiografischer Essay „Rückkehr nach Reims“ in zahlreichen Feuilletons besprochen wird. In seinem Buch beschreibt Eribon, wie er kurz vor dem Tod seines Vaters in das Umfeld zurückkehrt, das er Jahrzehnte zuvor verlassen hatte, um der alltäglichen Homofeindlichkeit zu entgehen, seinem Begehren nach Bildung zu folgen und das Leben eines schwulen Intellektuellen in Paris zu leben. Zu Beginn seiner Reise fragt er sich, warum er gegen seine sexuelle Scham angeschrieben und selbstbewusst schwule Subjektivität behandeln konnte, aber die soziale Scham – die über seine Herkunft aus der Arbeiterklasse – nie zu überwinden vermochte. Neben diesen autobiografischen Reflektionen geht Eribon der Frage nach, warum aus seinem Herkunftsumfeld diejenigen, die traditionellerweise die kommunistische Partei wählten, inzwischen ihre Stimmen dem rechtsextremen Front National geben.

Entlang dieser Motive stellte Carolin Emcke ihre Fragen. Die Scham, was macht sie mit uns? Eribon beschreibt Scham als ein Gefühl, durch das wir zu Subjekten werden, ein Gefühl, das uns stets begleitet. Sei es die Scham, die uns eingeimpft wurde, homosexuell zu sein, die Scham, arm, hässlich oder alt zu sein. Das Beschämende aussprechen und mit anderen Menschen teilen zu können, birgt wiederum die Möglichkeit, sich zu emanzipieren. In diesen kollektiven Bewegungen wird es möglich aus der Verurteilung, der Beleidigung, dem Stigma als politisches Subjekt herauszutreten und gemeinsam gegen die Unterdrückung anzugehen.

Dann hangelte sich die Debatte zum aktuellen Rechtsruck. Eribon legte seine Analyse dar, dass die sozialdemokratische Regierungspartei in Frankreich seit den 1980er Jahren eine konservative Wende durchgemacht und die Kategorie der Klasse verbannt habe, während Arbeitsrechte massiv abgebaut wurden. Menschen aus den Arbeitermilieus hätten sich nicht mehr als politische Subjekte angesprochen und geachtet gefühlt. Dementsprechend konnte Front National auf Wählerfang gehen, indem die rechte Partei ArbeiterInnen wieder als politische Subjektive adressierte, allerdings als weiße, französische ArbeiterInnen und ihnen damit nationalistischen Stolz einimpfte. Nun geht es, hierin waren sich Eribon und Emcke einig, nicht darum, den Begriff der Klasse wieder ins Zentrum zu stellen und Homofeindlichkeit, Rassismus und andere Unterdrückungsformen als Nebenschauplätze des politischen Kampfes abzutun. Vielmehr müsse man, betonte Eribon, den Begriff der Klasse wieder aufnehmen, um ökonomische Ungleichheiten sichtbar zu machen und damit diejenigen ansprechen, die vom Abbau sozialstaatlicher Strukturen unmittelbar betroffen seien. Es sei wichtig, die soziale Frage im Zusammenspiel mit anderen Unterdrückungsformen zu denken.

Während in letzter Zeit aufgrund der fatalen Entwicklungen viele Veranstaltungen in niedergeschlagener und ratloser Atmosphäre mündeten, endete der Streitraum in energetischer Stimmung. Eribon bekräftigte, wie wesentlich es sei, sich in die Debatten einzumischen, nicht nur auf die Rechte zu reagieren, sondern den Diskurs zu verändern und linke Visionen eines Europas der Kulturen, des Denkens und der Vielfalt einzubringen. Er warnte, dass es gefährlich sei, wenn sich die Linke auf nationaler Ebene abarbeite und womöglich die Konzepte der Rechten, wie eben die Nation und das Volk, übernehme. Anstatt sich auf das Niveau der Reaktionären zu begeben, müssten sich progressive Bewegungen als globale Linke stärken. Oder, wie er im Seitenhieb auf Marx formulierte: „Progressisten aller Länder, vereinigt euch!“

Jule Jakob Govrin

Didier Eribon ist auch am kommenden Donnerstag in Berlin zu erleben:
Fearless Speech 7 / Anschlüsse an Foucault. Das Lokale und das Globale: Formen der Herrschaft und Formen des Widerstands
mit Didier Eribon, Moderation: René Aguigah, 01.12., 19:00,
HAU1

Folge uns auf Instagram

Das Siegessäule Logo
Das Branchenbuch mit Haltung
Queer. Divers. Überzeugend.