Kommentar

Sexuelle Gewalt: Wege zum Nein

6. Aug. 2017
Sina Holst

Sina Holst ist Mitherausgeberin eines Buches über sexuelle Gewalt und Wege zu sexueller Selbstbestimmung. Zu letzterem gehört auch eine Umwertung des Neinsagens wie sie in ihrem Kommentar erklärt

Ob Cruising, Polyamorie oder serielle Monogamie: Sex zu haben gehört in Berlin zum guten Ton. Wer sagt, ich hatte einige Monate keinen Sex oder gar noch nie, erntet schnell mitleidige Blicke. Die zurzeit viel beschworene Sexpositivität wird zu Sexnormativität, wenn Sex per se als gut und richtig verstanden wird und kein Platz bleibt, um über ambivalente Erfahrungen zu sprechen.

Wie sähe eine Welt aus, in der nicht möglichst viel, sondern möglichst selbstbestimmter Sex der Maßstab wäre? Das kann genauso gut kein Sex wie viel Sex bedeuten, Vanilla wie Kink, gleich- und alleingeschlechtlich, mit und ohne Orgasmen, mit oder ohne Liebe. Der einzige Maßstab wäre, ob und wie ich das will – und du das willst.

Der Sammelband „Wege zum Nein“ (Edition Assemblage), den ich gemeinsam mit Johanna Montanari herausgegeben habe, greift diese Fragen auf und setzt sich für eine radikale Debatte nach der Sexualstrafrechtsreform 2016 ein. Dreizehn Beiträge beschäftigen sich aus persönlichen, aktivistischen, philosophischen und juristischen Perspektiven mit den Themen sexueller Selbstbestimmung und sexueller Gewalt. Der Band hinterfragt, wie und warum die Sexualstrafrechtsreform auf die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln 2015/16 zugeschnitten ist und wie dies den erstarkenden antimuslimischen Rassismus in Europa aufgreift und fortschreibt. Vergewaltigungskultur ist, dafür macht sich „Wege zum Nein“ stark, kein Kulturimport migrantisierter Menschen, sondern (leider) fester und historisch gewachsener Bestandteil des Zusammenlebens in Deutschland.

Ein Aspekt dieser Vergewaltigungskultur ist, Betroffenheit von sexueller Gewalt mit Schwäche gleichzusetzen. Dabei wird die Machtlosigkeit, die in dem Moment des Übergriffs bestand, kurzerhand auf die ganze Persönlichkeit bezogen. So sagen viele Betroffene lieber nichts, um nicht selbst als schwach, eben als Opfer zu gelten. Ein Thema, dem sich Jan Großers Titelgeschichte in der Juniausgabe der SIEGESSÄULE widmete, in der er die spezifische Tabuisierung von sexuellem Missbrauch schwuler Männer verhandelte. Der Tabuisierung sowie den Ängsten vor einer Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt möchte „Wege zum Nein“ den Mut entgegensetzen, eigene Visionen sexueller Selbstbestimmung zu entwerfen.

Eine dieser Visionen ist eine Umwertung des Neinsagens. Nein gilt meist als Markierung einer Grenze, oftmals einer bereits überschrittenen Grenze. Ich wünsche mir ein Nein, das vor der Überschreitung einer Grenze da ist. Sexy ist das Nein, das wir respektieren, nicht das Nein, das überschritten wird.

Ich finde es unglaublich schwierig, einfach Sex zu haben. Irgendwo zwischen Begehren, Gefühlen, Geschlechtskrankheiten und sexistischen Geschlechternormen entgleitet mir die Leichtigkeit. Mach ich es gerade noch richtig oder schon falsch? Sex als Eigenes zu definieren, selbst zu bestimmen ist eine radikale Bewegung voller Herausforderungen. Dazu gehört, mir ein- und zuzugestehen, dass ich selbst nicht immer so Sex habe, wie ich es mir wünsche. Das Schlafzimmer, welches Sexismus, Hetero- und Penetrationsnormativität, Rassismus, Pornografie, Cissexismus, Ableismus und Vergewaltigungskultur draußen auf dem Flur lässt, gibt es so nicht. Neinsagen neu zu begegnen verstehe ich als Handlungsmöglichkeit in diesem von Machtverhältnissen durchzogenen Raum.

Sina Holst

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