Bewegungsmelder

Wer hat Angst vorm geilen Mann?

5. Nov. 2017
Dirk Ludigs (c) Tanja Schnitzler

Den allmählichen Fall der Weinsteins und Spaceys dieser Welt verdanken wir dem Niedergang des Patriarchats. Dem Wesen menschlicher Sexualität sind wir aber nicht näher gekommen

Vor zwanzig Jahren veröffentlichte der heute zu Unrecht etwas in Vergessenheit geratene Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt das bemerkenswerte Büchlein: „Das Verschwinden der Sexualmoral“. Seine These: Die seit Jahrhunderten von Kirche und Staat durchgesetzte Moral, bestehend aus Verboten und Geboten, befinde sich im Zustand der Auflösung und werde durch eine neue „Verhandlungsmoral“ ersetzt, in der alles sexuell okay sei, was ebenbürtige PartnerInnen untereinander an Sexualität aushandeln.

Diese Revolution des Moralischen hat die Entkriminalisierung und rechtliche Gleichstellung von Homosexualität ermöglicht, sie hat die Vergewaltigung in der Ehe erst als Begriff und dann als Straftatbestand geboren. Noch in den Sechzigern hatte das Bundesverfassungsgericht von Frauen verlangt, sich mit Opferbereitschaft ihrem Manne „hinzugeben“; ob sie dazu nun gerade Lust hatten oder nicht, spielte keine Rolle. Die Verhandlungsmoral hat unzählige Sexualpraktiken von Masturbation bis Sadomasochismus aus der religiösen Verbotszone geholt. Sie ist der bis heute letzte große Sieg der Aufklärung.

Aufklärung heißt auch: ans Licht bringen. Im Schatten der Verbotsmoral und abgesichert durch die Macht des Patriarchats existierten jahrhundertelang Tabus, hinter denen in der Regel Männern das Überschreiten von Verboten ermöglicht wurde. Über Vergewaltigungen im Krieg durfte ebenso wenig gesprochen werden, wie über die sexuellen Raubzüge reicher und mächtiger Männer, ihre Anmaßung, mit der sie Frauen oder auch – in der Regel jüngere, weniger mächtige – Männer als erotische Verfügungsmasse nutzten. Dem fortschreitenden Niedergang des Patriarchats ist es zu verdanken, dass sie peu à peu fallen, dass wir heute aus dem Blickwinkel der Opfer betrachten können, was hinter den Tabus geschah und geschieht.

Vieles ist in den letzten Tagen zu Weinstein, Spacey und Co. geschrieben worden. Da sich kaum einer mehr öffentlich traut, die patriarchalen Tabuzonen einer mausetoten Verbotsmoral zu verteidigen, schreiben in der Regel zwei Seiten eines Lagers gegeneinander: Die einen sehen in den Enthüllungen nur die Spitze eines Eisbergs aus Gewalt und männlichem Machtmissbrauch. Die anderen versuchen, die Fälle als Einzeltaten zu erklären und den Schaden einzudämmen. Da beide aus der Sicht der Verhandlungsmoral argumentieren, betonen sie jeweils die Macht- und Gewaltaspekte. Aber sie verkennen aus dem gleichen Grund den sexuellen Kern dessen, was auf den Besetzungscouchs dieser Welt geschehen ist – und machen wir uns nichts vor – bis heute jeden Tag weiter geschieht.

Das inhärent Sexuelle der Geschehnisse kommt auf beiden Seiten der öffentlichen Diskussion nur nach als Tatwaffe vor. Was Männer wie Weinstein und Spacey sexuell anzieht, was sie erregt, ist kaum Thema der Debatte. Dass sie Männer sind, bestimmt den Diskurs und genügt den meisten als Erklärung.

Die VertreterInnen der Verhandlungsmoral haben gute Gründe, die Motive nicht im Sexuellen, sondern in der Macht und ihrem Missbrauch zu suchen. Denn die Verhandlungsmoral, das hat Schmidt schon vor zwanzig Jahren erkannt, führe, indem sie nicht mehr eine sexuelle Praktik moralisiert, sondern ihr Zustandekommen, zu einem „beinahe rührenden Glauben“ an die Rationalisierbarkeit von Sexualität. Verhandlungsmoral ziele „auf das Ausschalten von Unberechenbarkeit und Risiko“ und ersetze es durch die Floskel „Sexualität ist Kommunikation“.

Bevor an dieser Stelle Empörung losrauscht: es geht mir nicht darum, die Taten dieser Männer zu bagatellisieren, die Traumatisierung ihrer Opfer kleinzureden oder mildernde Umstände geltend zu machen. Mir geht es um etwas anderes: Wenn wir uns die Widersprüche und das Irrationale im Wesen der Sexualität nicht bewusst machen und in das Konzept der Verhandlungsmoral integrieren, wird sich nichts ändern. Wir können und müssen die Täter bestrafen, aber wir werden neue Taten nicht verhindern. Und mit jedem neuen Skandal werden immer mehr Menschen die liberalen Erfolge der Verhandlungsmoral aufzugeben bereit sein zugunsten eines neuen moralischen Rigorismus, egal ob er nun als rechter Backlash daherkommt oder als ein neuer linker Tugendterror.

Der Sexualtherapeut Jack Morin hat seit den achtziger Jahren die Muster sexueller Erregung an Hunderten Menschen jeden Geschlechts und sexuellen Orientierung erforscht. Was Menschen antörnt, sagt er, beruhe auf vier Eckpfeilern: auf ihren Sehnsüchten und Erwartungen, dem Überschreiten von Verboten, der Suche nach Macht und dem Überwinden von Ambivalenz. Menschliche Sexualität sei also an sich weder positiv noch negativ, sondern meist paradox: zugleich freudig und gefährlich, energiespendend und mühselig. Menschliche Erregungsmuster halten sich von Natur aus nicht an politische Korrektheit. Sexuelle Enttäuschungen in der Jugend führen zu inneren Drehbüchern der Erregung, mitunter auch zu gewalttätigen. Unbewältigte Gefühle wie Angst oder Wut können uns abtörnen, aber auch geil machen. Fantasien, Gefühle und gemachte sexuelle Erfahrungen vor allem in den prägenden Jugendjahren verschmelzen zu einem „erotischen Kernthema“, das sich im Problemfall um die Prinzipien der Verhandlungsmoral nicht schert und nur schwer ohne Hilfe von außen zu erkennen, geschweige denn zu durchbrechen ist.

Morins Forschungen mögen nicht das letzte Wort zum Wesen von Sexualität sein. Aber sie führen schon mal ein gutes Stück weiter als ihre Verteufelung in der Verbotsmoral oder ihre aktuelle Banalisierung als Form der „Kommunikation“. Im Grunde wissen die meisten Menschen im tiefsten ihres Inneren um das Irrationale des Sexuellen im Allgemeinen und ihrer eigenen Sexualität im Besonderen. Umso mehr fürchten sie sich davor und versuchen es zu bannen. Was dabei herauskommt, sieht man.

Wenn wir mehr wollen, als uns entlang wiederkehrender Skandale zu erregen, wenn wir etwas verändern wollen, dann müssen wir über den Umweg der Opfer erneut zu einer Betrachtung der Täter und ihrer Sexualität gelangen, die aus dem Fokus geraten ist. Statt immer härterer Strafen und neuer Paragrafen sollten wir vor allem Wege finden, jenen Hilfe anzubieten, die gewalttätige erotische Muster entwickelt haben – und zwar am besten, bevor sie zu Tätern werden. Voraussetzung dafür ist, einen realistischeren Blick auf menschliche Sexualität zu gewinnen, als es der naive Glaube an ihre Rationalisierung und Zivilisierung im Rahmen der Verhandlungsmoral derzeit erlaubt.

Dirk Ludigs

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