Bewegungsmelder

It’s the economy, stupid!

31. Dez. 2017

Die Dinosaurier im Saal drängeln sich aufgeregt nach vorne und strecken erwartungsvoll ihre langen Hälse in Richtung des Rednerpults. Doch der plumpe Stegosaurus, der oben auf der Bühne steht, die dicken Pfoten wie am Katheder festgeschraubt, hat keine frohe Botschaft für den Saal: „Das Bild ist ziemlich trostlos!“ erklärt er dem Kongress: „Das Klima der Welt verändert sich, die Säugetiere übernehmen und wir alle haben ein Gehirn von der Größe einer Walnuss."

Nichts kommt dem Zustand der Debatten links der Mitte derzeit näher als Gary Larsons zeitloser Cartoon aus den Neunzigern. Die Suche nach Antworten auf den Aufstieg eines tot geglaubten Autoritarismus, auf die Herausforderung von rechts, gleicht dem berühmten Stochern im Nebel. Zu den bisher letzten im Reigen blinder Fährleute gehörte kurz vor Weihnachten der Noch-SPD-Außenminister Sigmar Gabriel. Sein von ihm selbst als „provokativ und holzschnittartig“ vorgestellter Essay versuchte sich an der Frage, was Sozialdemokratie anders machen müsse, um eine immerhin sozialdemokratische Kernklientel zurück ins demokratische Boot zu holen.

Seine Analyse lautet: Zu oft haben Sozialdemokrat*innen sich in postmodernen Debatten wohlgefühlt. „Die Ehe für alle haben wir in Deutschland fast zum größten sozialdemokratischen Erfolg der letzten Legislaturperiode gemacht und nicht genauso emphatisch die auch von uns durchgesetzten Mindestlöhne, Rentenerhöhungen oder die Sicherung Tausender fair bezahlter Arbeitsplätze bei einer der großen Einzelhandelsketten.“

Zwar wisse auch er, wie wichtig gleiche Rechte „für jedwede Art von Lebensentwürfen“ seien. „Und trotzdem müssen wir uns in den sozialdemokratischen und progressiven Bewegungen fragen, ob wir kulturell noch nah genug an den Teilen unserer Gesellschaft dran sind, die mit diesem Schlachtruf der Postmoderne ‚Anything goes‘ nicht einverstanden sind.“

Der Kongress „was not amused“. Bernd Ulrich warf Gabriel in der Zeit „imposante Denkfehler“ vor, wenn er das Unbehagen, das die Wähler nach rechts wandern lässt, daran festmacht, dass „das Übermaß, die Radikalität der Postmoderne (...) das Unbehagen nährt.“ Der schwule Blogger Johannes Kram witterte Verrat: Gabriel bestätige „nicht nur die Ängste, die Homosexuelle davor haben, zum Punchball der Populisten und zum Symptom für die Spaltungserscheinungen in der Gesellschaft gemacht zu werden. Er verrät auch die SPD, weil er das einzige verrät, wofür die SPD heute gebraucht wird: Das Ringen um den Zusammenhalt der Gesellschaft.“

Aber stimmt das wirklich so? Oder prügeln Ulrich und Kram nicht eher auf den Überbringer einer Botschaft, die ihnen nicht gefallen kann, an der aber einiges dran ist?

Spannenderweise ging ein paar Tage später ein längeres Stück des Zeit-Redakteurs Holger Stark online, das mit besonderem Blick auf die USA zu denselben Analysen wie Gabriel gelangt. Stark schreibt über die Genderdebatten der Linken und stellt fest: „Das politische Problem besteht (...) nicht in der Frage der Vielfalt der Geschlechter und Sexualitäten, dazu hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Grundsatzurteil Wegweisendes ausgeführt. Problematisch ist der gefühlte Absolutismus dieses Politikansatzes, der die berechtigten politischen Anliegen der einen Gruppe gegen die einer anderen ausspielt und sie in Konkurrenz zueinander stellt. Die US-amerikanische Linke hat weit weniger leidenschaftlich für die überwiegend weißen Arbeiterinnen und Arbeiter in Wisconsin gekämpft, deren Fabriken von der Schließung bedroht waren, oder für die schwarzen Familien in Flint, Michigan, die unter giftigem Trinkwasser litten, weil die Stadt den Wasseranbieter gewechselt hatte.“

Tatsächlich hat sich seit den Tagen, in denen Londoner Schwule und Lesben walisische Bergarbeiter in ihrem Kampf gegen den Thatcherismus unterstützten, ziemlich alles verändert. Und man darf durchaus auch der LGBT-Bewegung den Vorwurf machen, sich im „Ringen um den Zusammenhalt der Gesellschaft“ in Identitätsfragen zu verheddern, die immer mehr zu einer Zersplitterung und gesellschaftlichen Spaltung beitragen, als zum gemeinsamen Ganzen.

Es ist nun mal kein Zufall, dass der Aufstieg der emanzipatorischen Bewegungen historisch mit dem Aufstieg des Neoliberalismus als globaler Wirtschaftsform einhergeht. Es war genau die Absage an den Klassenkampf, der Identitätspolitiken erst in den Mittelpunkt progressiver Politik rückte. In einem naiven Glauben, seien erst einmal alle Menschen gleich berechtigt, werde sich Gerechtigkeit schon irgendwie von alleine einstellen, taten in den USA die Demokraten, in Deutschland Grüne und Sozialdemokraten ziemlich alles, um eine keynesianische Nachkriegsordnung zu demontieren, die arbeitenden Menschen einst erst jene wirtschaftliche Sicherheit bot, die bis heute notwendige Voraussetzung ist, um überhaupt zum demokratischen Subjekt werden zu können. Der Pakt der emanzipatorischen Linken mit dem Neoliberalismus geschah auf Kosten der Verlierer der Globalisierung. Das hat nicht zuletzt auch Didier Eribon in seinem viel beachteten „Rückkehr nach Reims“ thematisiert.

Der Neoliberalismus jedoch liegt im Sterben. Noch beherrschen seine Regeln und Institutionen die Welt, das stimmt. Aber seine Verteidiger sind nicht mehr sehr zahlreich, die USA gehören seit Trump definitiv nicht mehr dazu, dessen Steuergesetze sind ja auch ein großer Einstieg in nationalen Protektionismus. Die Frage also lautet: Gelingt ein linker, demokratischer, internationaler und postneoliberaler Politikentwurf, der die Fragen von Rasse, Geschlecht und Klasse (race, class and gender) miteinander versöhnt und nicht gegeneinander ausspielt - oder heften sich die emanzipatorischen Bewegungen des Westens an einen sterbenden Koloss und gehen mit ihm unter.

Die Zeichen sind schon an die Wand gemalt: Extreme Rechte in den USA wendet sich munter einem nationalen und rassisch gesäuberten Sozialismus zu. Ähnliche Bestrebungen gibt es auch in der AfD.
Holger Stark zitiert Trumps Berater Steve Bannon mit den Worten: „Wenn die Linke sich auf Identitäts- und Anti-Rassismus-Politik fokussiert, wir uns dagegen auf Wirtschaftsnationalismus konzentrieren, können wir die Demokraten zerstören.“

Ich fürchte, er hat Recht: It’s the economy, stupid! Wichtiger als Gabriel absehbar zu bashen, wäre es gewesen, ihn herauszufordern, ihm klar zu machen: Wir werden es einerseits nicht zulassen, dass unsere Themen wieder zum Nebenwiderspruch erklärt werden. Aber wir werden andererseits den Verteilungsdebatten der Zukunft nicht im Wege stehen, wir wollen sie mitbefeuern. Für den politischen Überlebenskampf der liberalen Demokratien wird derzeit jedes Gehirn gebraucht.

Dirk Ludigs

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