Bewegungsmelder

Deine Vielfalt kotzt mich an!

6. März 2018
Dirk Ludigs © Tanja Schnitzler

Am Anfang stand eine Ankündigung: Das Schwule Museum* eröffne am 20. April 2018 in den Räumen seines Bistros zum selbst ausgerufenen „Jahr der Frauen*“ eine „Dyke Bar“. Aber nicht irgendeine: Die Installation eines „interdisziplinären und multi-medialen Künster_innenkollektivs“ nehme dort Bezug auf „prägende Momente der lesbisch-queeren Geschichte vom alten Wissen der Hexen in ferner Vergangenheit bis zu den Cyborgs der Zukunft, um in der Gegenwart einen Dialog darüber zu eröffnen, warum Dyke Bars sterben und wie sie wiederbelebt werden können.“

So weit, so schrullig! „Mal gucken, was sie draus machen“, könnte eine angemessene Reaktion darauf sein. „Ist das ironisch oder ernst gemeint?“ eine andere. Aber weit gefehlt! Was sich eröffnete, war kein Dialog, sondern ein Sturm selbstgerechter Empörung aus allen Schützengräben der Berliner Buchstabensuppe! In den sozialen Medien stellte eine bekannte Polittunte fest, in einem Teil des Museums seien nun alle Sicherungen durchgeknallt. Hexen seien schließlich eine Hassprojektion mittelalterlicher Männer und das Gegenteil von emanzipatorisch, weshalb die Nazis sie ja auch so spannend fanden. Apropos Nazis, mokierte sich ein bekannter trans* Mann, der 20. April als Eröffnungsdatum zeige doch schon den ganzen Mangel an historischer Vermittlung. Der Termin ist ja tatsächlich – die Älteren unter uns erinnern sich – der 129. Geburtstag Adolf Hitlers.

Aus lesbischer Sicht meldete sich sogleich eine Lesbe mit den Worten zu Wort (Großschreibung im Original): „Die haben keine Ahnung von LESBISCHER Geschichte“, während eine weitere bekannte Lesbe sich darüber empörte, dass zu viel der berechtigten Kritik wie immer aus unberechtigten (Männer-)Mündern stamme. Ein weißer, mittelalter schwuler cis Künstler musste daraufhin nochmal dringend loswerden, dass ihn das alles doch sehr befremde: „Warum haben die Lesben immer mehr das Sagen? Sie haben das Museum weder erfunden noch aufgebaut!“ Es gipfelte im Stoßseufzer einer altgedienten Dyke: „Die Achtziger haben angerufen, sie wollen ihre Debatten zurück!“

Darf ich da leise widersprechen, also ich so als alter, weißer, schwuler Cis-Mann? Denn in den Achtzigern debattierten wir zwar aggressiv und ungerecht miteinander, aber immerhin in Freiräumen, in denen Platz war für die Durchgeknalltheiten des Individuums, in denen Spannungen und Paradoxien zwischen Politik und Spiritualität, Wissenschaft und Kunst möglich waren.

Diese Freiräume sind flöten und mit ihnen die Individualität. Nach vierzig Jahren Identitätspolitik, erst klassisch, dann queer und schließlich intersektional, debattieren wir immer weniger als Individuen miteinander und immer mehr als Vertreter*innen von Identitäten, platt gesagt: als Mitglieder eines Stammes! „Also, ich als ...“, so fangen unsere Statements in der Regel an und eigentlich könnten sie da auch schon aufhören, der Rest ist vor allem an die eigenen Leute gerichtet: Seht her! Ich verbreite den wahren Glauben!

Was ist passiert? Zum einen eine Verkopfung unserer Debatten. Wir leben in der Regel nicht, wovon wir reden. In den Achtzigerjahren gab es zwar keine Proseminare für queere Theorie, wohl aber besetzte Häuser, autonome Zentren und andere Freiräume außerhalb kapitalistischer Verwertungsghettos für die tägliche queere Praxis. Das war zwar anstrengend, aber auch eine Schule des Lebens, die heute weder in Penthäusern, noch in Einzimmerbuden, noch in Seminarräumen, noch auf Facebook unterrichtet wird.

Was stattdessen im Netz passiert, hat der Medienforscher Marshall McLuhan schon vor vierzig Jahren prophezeit: Im globalen Dorf der elektronischen Medien zerfällt die moderne Gesellschaft in Stämme, „ein höchst traumatischer Prozess, da der Zusammenprall der alten (...) Kultur und der neuen (...) elektronischen Kultur eine Identitätskrise hervorruft, ein Vakuum des Selbst, das gewaltige Gewalt erzeugt – Gewalt, die einfach eine Identitätssuche ist.“

Postmoderne Identitätspolitik ist mal als emanzipatorische Kraft gestartet, als Zusammenschluss von Menschen, die aufgrund gemeinsamer Merkmale benachteiligt werden. Heute liefert sie für diese Tribalisierung, diesen Rückfall ins Stammesdenken, die perfekte ideologische Basis. Es ist das eine, marginalisierten Stimmen den lange überfälligen Raum zu geben oder festzustellen, dass ein weißer, schwuler cis Mann nie wirklich erfahren kann, was es bedeutet, eine Schwarze lesbische trans Frau zu sein. Es ist etwas anderes, Menschen abzusprechen, dass sie zur Empathie fähig sind.

Empathie alleine würde vielleicht auch nicht ausreichen, um gesellschaftlich wirklich etwas zu verändern. Aber, um es mit Steven Pinker zu sagen, der in seinem neuesten Buch die Auswüchse der zeitgenössischen Identititis beklagt: „Ein Grundsatz der Aufklärung besagt, dass Menschen Prinzipien universeller Rechte erkennen können, die sogar die Lücken überbrücken, die Empathie nicht überbrücken kann. Jede Hoffnung auf menschliche Verbesserung wird besser dadurch unterstützt, dass die universellen menschlichen Interessen anerkannt werden, als wenn Gruppe gegen Gruppe im Nullsummenwettbewerb antritt.“

Vielfalt ohne universelle Basis ist die beste Voraussetzung für den Rückfall in McLuhans Mad-Max-Stammeswelt voll roher Gewalt, in der es vor allem Spaß macht, seine GegnerInnen zu schlachten. Genau da landen wir aber jeden Tag ein bisschen mehr. Es sind ja fatalerweise gerade die Berliner Institutionen, die etwas wagen, die sich den Ideen von Vielfalt, Queerness oder Intersektionalität am weitesten geöffnet haben, die sich dem Hagel der Kritik am meisten ausgesetzt sehen. Nicht der Rassismus einiger Berliner Szenewirte führt zum großen Aufschrei, sondern die Rückschläge eines immerhin um Veränderung bemühten SchwuZ. Und das nicht mehr ganz so Schwule Museum* kann sich mit egal welcher Veranstaltung offenkundig nur noch in die Nesseln setzen.

Also: Ja, liebe, alte Reck*innen, es gibt Diskussionen, die waren schon mal da. Ja, liebe Gebildete, es gibt Ungebildete. Ja, liebe Schwule, es gibt Lesben. Ja, die Aufklärung war ein Denkergebnis rassistischer weißer Männer und ihr einseitiger Blick auf die Ratio wurde oft und klug kritisiert. Aber was ist gewonnen, wenn wir ihren Anspruch auf Universalität und ihre Wertschätzung des Zweifels durch nichts anderes ersetzen, als durch das Stammesdenken und die Rechthaberei zeitgenössischer Identititis? Ich behaupte: Nichts, im Gegenteil! Eher sehen wir bald identitären Rechten ähnlich, als dass wir dem Shangri-La linker Utopien näherkommen, in denen Lesben, Hexen, Schwule und Cyborgs gleichberechtigt und gemeinsam frohlocken, selbst wenn’s gerade der 20. April ist.

Es gibt, um es mit dem Aufklärer Montesquieu zu sagen, eben nicht nur ein Zuviel des Bösen: „So unwahrscheinlich es klingt: Auch die Tugend bedarf der Begrenzung!“

Dirk Ludigs

PS: Wer sich mit McLuhan oder Pinker näher beschäftigen möchte, hier ein Lese- und Hörtipp (beide auf Englisch)

Eben erst erschienen: Enlightenment Now: The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress by Steven Pinker, Viking Books, Februar 2018

Douglas Coupland (Autor von Generation X), BBC-Radio-Feature über Marshall McLuhan: The Medium Is the Message

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