SIEGESSÄULE GOURMET

„Die Foodszene ist immer noch weiß, männlich, hetero und cis dominiert"

4. Juni 2018
Mary Scherpe © Becca Crawford

Zehntausende Follower können sich nicht irren: Seit 2010 betreibt Mary Scherpe den einflussreichen Internetblog Stil in Berlin. Carsten Bauhaus sprach für SIEGESSÄULE Gourmet mit ihr über den Berliner Food-Hype, den kulinarischen Auftrieb im alten Westen und den Feminist Food Club. Unser neuer Gourmet Guide 2018, mit dem ihr in die queere Genuss-Vielfalt-Berlins eintauchen könnt, liegt der aktuellen Juni-Ausgabe der SIEGESSÄULE bei!

Für unser Treffen hast du das Nano auf der Dresdener Straße ausgewählt. Warum hier? Das hat vor allen Dingen praktische Gründe: Es liegt auf dem Fußweg von meiner Wohnung zum Büro. Aber das Nano bietet nicht nur wirklich guten Specialty Coffee, sondern ist auch sehr entspannt und nett. Und man wird für seinen mediokren Kaffeegeschmack nicht verurteilt, nach dem Motto: „Wie? Du willst Zucker in deinem Kaffee?!?“

Angefangen hast du vor zwölf Jahren als Modebloggerin, dann kam 2010 der Schwenk zu Essensthemen. Berlin als Modestadt ist ja inzwischen nicht mehr so das heiße Eisen, die Foodszene dagegen boomt. Hast du auf das richtige Pferd gesetzt?
Die Gastronomie ist tatsächlich die Szene, wo im Moment am meisten Bewegung, Energie und Progressivität zu finden ist: ein spannendes Thema, das gleichzeitig viele Menschen erreicht und betrifft. Es ist am einfachsten zugänglich, anders als andere Szenen wie Musik oder Kunst. Außerdem kommen beim Essen auch alle anderen Szenen zusammen.

Es sind ja schon viele Säue durch Berlin getrieben worden. Die Stadt hat sich als Mode- und Kunststadt versucht, jetzt als Food-Metropole. Wird der Trend diesmal nachhaltiger sein als die anderen?
Wir sind an einem Punkt, wo wir uns entscheiden müssen: Will man die Sau durchs Dorf treiben, bis sie müde ist – und dann sucht man sich eine neue? Oder will man sich bemühen, die Szene zu unterstützen und zu pushen. Für engagierte Köche wird es immer schwerer, Orte zu finden. Die Szene wird zunehmend kommerzialisiert. Um eine nachhaltige Entwicklung zu fördern, die das Leben in der Stadt auch wirklich besser macht, müsste man gewisse Weichen stellen. Für kleinere Projekte und Kleinunternehmen – statt nur einen weiteren Google-Campus zu eröffnen. Und der Immobilienmarkt müsste in seine Schranken gewiesen werden.

Die Preise ziehen überall merklich an. Können sich die Berlinerinnen und Berliner die Restaurantbesuche überhaupt noch leisten? Kleine Restaurants, die nur wenige Plätze haben und mit Bioprodukten arbeiten, müssen natürlich etwas teurer sein. Aber wir müssen definitiv darüber nachdenken, eine Foodszene zu fördern, die nicht nur für Besserverdienende und gut betuchte Reisende da ist. Für mich gehört etwa dazu, dem Sterne-Fetischismus nicht zu frönen. Im Essen steckt viel Potenzial, um eine Stadt lebenswerter zu machen. Wie kann man das Essen demokratisieren, also die Qualität für ganz viele Menschen steigern? Wie schaffen wir, dass das, was wir hier essen, auch in der Region angebaut wird? Hinzu kommen Stadtgarten- und Nachbarschaftsprojekte. Das alles hat viel mehr Potenzial, die allgemeine Lebensqualität in der Stadt zu verbessern, als die Kunst- und Modeszene.

Du erwähntest die Unterstützung regionaler Produkte. Im Moment wachsen auf den sandigen Böden Brandenburgs ja köstlicher Spargel und saftige Erdbeeren. Aber sonst? Das ist ja der große Mythos: „Hier wächst nichts, deswegen müssen wir alles herschaffen.“ Klar kann man hier nicht ganzjährig Auberginen oder Tomaten anbauen. Aber es gibt viele Biobauern und Initiativen, die man unterstützen sollte, damit hier am Ende vielfältiger und nachhaltiger angebaut wird.

In den letzten Jahren hat sich die Tendenz zu Restaurantballungen noch weiter verstärkt: Paul-Lincke-Ufer, Torstraße, Kantstraße sind die Hotspots der Gastroszene. Ist es nicht schade, dass die Berlinerinnen und Berliner tolle Restaurants nicht um die Ecke finden, sondern nur an bestimmten Orten, wohin sie anreisen müssen? Die Stadt ist so angelegt, dass sie Ballungen begünstigt. Nicht jede Straße bietet von der Stadtplanung her genügend Gewerbeflächen, die sich für Restaurants eignen. Und: Die Margen sind nicht so groß, dass man sich eine goldene Nase verdient. Wer ein Restaurant aufmacht, überlegt sich schon sehr genau, wo. Braucht man Laufkundschaft? Hat man eine Zielgruppe, die zu bestimmten Zeiten da und da ist? Und wer Mittagessen anbietet, braucht Büros in der Nähe. Nur für Sterne-Restaurants ist es vollkommen wurscht, wo sie liegen.

Gibt es an manchen Ecken nicht ein Überangebot?
In den letzten zwei Jahren haben entlang der Potsdamer Straße mindestens ein gutes Dutzend höherpreisiger Restaurants eröffnet. Werden wir bald ein Restaurantsterben erleben? Nein, es gibt immer noch sehr viel Luft nach oben. Natürlich gibt es immer wieder Läden, die im Hype aufmachen und schon nach einem halben Jahr nicht mehr da sind. Das liegt aber nicht an einem potenziellen Publikumsmangel, sondern daran, dass deren Konzepte einfach nicht stimmen. Wenn ich daran denke, wie viele „Avocado auf Toast“-Angebote gerade aufmachen – dass es die in zehn Jahren nicht mehr gibt: geschenkt!

Wenn man in den letzten Monaten von spannenden Neueröffnungen hörte, war das meist in ehemaligen Westbezirken. Ist der Osten tot? Mitte ist inzwischen sehr kommerzialisiert. Es ist einfach sehr, sehr teuer, dort etwas aufzumachen. Dass dort etwas wirklich Interessantes aufgemacht hat, ist schon ’ne Weile her. Kreuzberg oder Neukölln bieten da schon bessere Möglichkeiten, auch wenn da die Preise genauso steigen. Und mittlerweile ist das Publikum auch bereit anzureisen. Für einen guten Ort, wo man sonntags gut frühstücken kann, nimmt man heute auch schon mal 45 Minuten Anfahrt in Kauf.

Was macht eigentlich der Hype ums Streetfood? Die Entwicklung ist dadurch eingeschränkt, dass es Garküchen in Deutschland wegen der Hygienevorschriften schwer haben und Foodtrucks hier nur auf Privatgelände parken dürfen. Stattdessen versuchen Agenturen und Corporates, Streetfood einzukaufen, um sich einen hippen Anstrich zu geben. Das geht aber in den meisten Fällen schief. Das, was man an Streetfood gut gefunden hat, findet man dort nicht, sondern einfach nur einen weiteren Foodcourt.

Es gibt inzwischen Küche aus aller Welt in Berlin. Gibt es dennoch eine bestimmte Länderküche, die du vermisst? Es fehlt keine Länderküche per se. Grundsätzlich wünsche ich mir, dass die Qualität insgesamt steigt, durch die Ansprüche des Publikums. Das sollte mehr fordern, besseres Essen und besseren Service. Was die Länderküchen angeht: Die lassen sich eh am besten vor Ort genießen. Alles andere kann man heute ja überall online bestellen – aber Essen wehrt sich im Grunde gegen Globalisierung.

Was war für dich die spannendste Neuentdeckung in der letzten Zeit? Meine letzte wirkliche Überraschung war das Hako in Friedrichshain, ein Bezirk, mit dem ich so meine Probleme habe, und in dem in den letzten zwei Monaten gleich zwei neue Ramen-Läden aufgemacht haben – einer davon eher so Mittelmaß und der andere ist eben das Hako: richtig intensive japanische Nudelsuppen, ein paar Beilagen, dazu ein Bier – perfekt!

Du bist außerdem Mitgründerin des Feminist Food Club … Die Foodszene ist ja immer noch weiß, männlich, hetero und cis dominiert, deswegen haben wir eine Liste von Frauen* in der Foodszene erstellt. Ich hatte schon immer sowohl Interesse am Essen wie auch am Feminismus. Bisher habe ich das nie zusammenbekommen, aber mit dem Feminist Food Club ist das endlich gelungen. Es gibt inzwischen eine Facebook-Gruppe mit über 700 Mitgliedern und monatliche Treffen mit Workshops und Diskussionsrunden.

Du bist Vegetarierin. Ist das bei der Beurteilung eines Restaurants nicht manchmal ein Hindernis? Das Gute an Blogs ist ja, dass sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Ich würde ja nicht über Läden schreiben, deren Fokus auf Fleisch liegt. Anderseits ist Stil in Berlin kein explizit vegetarischer Foodblog. Ich finde einfach, dass alles, was auf der Karte ist, gut sein sollte. Hintenrum habe ich aber schon gehört, dass mir einige gewisse Kompetenzen absprechen. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Leserschaft mich in Frage stellt, nur weil ich kein Fleisch esse.

Heute posten viele vor dem Genuss ihre Mahlzeit auf Instagram. Parallel entstehen immer mehr Foodblogs – eine Bedrohung für dein Geschäft? Ich sehe das nicht als Konkurrenz. Da ist durchaus noch Platz für ein paar mehr Blogs. Jeder hat ja so seine Nische. Der Vorteil am Bloggen ist ja, dass es eine subjektive Geschichte ist. Ich beschreibe meine Perspektive und erhebe keinen Anspruch auf Objektivität oder Vollständigkeit. Und durch die Instagramisierung der Medien sind Foodblogs eher noch wichtiger geworden, da es auf Instagram ja ausschließlich darum geht, wie das Essen aussieht.

Würdest du einen Geheimtipp nicht veröffentlichen, einfach damit er nicht überrannt wird? Wenn ich persönlich einen Laden gut finde, möchte ich auch, dass er im Geschäft bleibt. Aus dieser Denke heraus behalte ich keinen Tipp für mich. Es gibt allerdings Fälle, in denen ich mit den Besitzern spreche, bevor ich etwas veröffentliche, damit sie sich auf einen möglichen Ansturm vorbereiten können. Ansonsten ist der Laden am nächsten Tag mittags schon ausverkauft. Und das ist dann sowohl für die Leserschaft als auch für die Läden frustrierend.

Interview: Carsten Bauhaus
stilinberlin.de



Die neue Ausgabe unseres Genuss-Guides für das queere Berlin findet ihr als Beilage in der aktuellen Juni-Ausgabe der SIEGESSÄULE! U. a. stellen euch Romy Haag und Günther Krabbenhöft ihre Lieblingsrestaurants vor und Multimediatranse Jurassica Parka testet das Kochhaus ...

SIEGESSÄULE Gourmet 2018 könnt ihr hier auch online lesen

Das Siegessäule Logo
Das Branchenbuch mit Haltung
Queer. Divers. Überzeugend.