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Kein Tuntenklischee: „Babylon Berlin“

10. Okt. 2018
„Babylon Berlin“ © ARD Degeto/X-Filme/Beta Film/Sky Deutschland/Frédéric Batier

Bei der ersten Kostümprobe in der Mauerstraße im Hauptquartier der Filmproduktion X Filme Creative Pool, die die Serie mitproduziert hat, laufe ich durch endlos lange sterile Gänge, Türfluchten, Treppenaufgänge, vorbei an Amtsstuben und Besprechungszimmern. Ich erreiche den Kostümfundus, links und rechts Zimmer mit Näherinnen und Garderobenständern und traumhaften Stoffen. Dann werde ich 20er-Jahre-gemäß ausgerüstet. Habe ja die perfekte Figur dazu!
Ich spiele Gloria, Bardame und Chefin der Pepita Bar. Eine zwielichtige Figur in einer nächtlichen Absteige mit dem Flair von Sex, Alk, Drogen, Nackttänzerinnen und Separees.

Die Komparsen hängen an der Bar ab, knutschen, tanzen, flirten und saufen auf Anweisung der Regie. Zwei der Protagonisten, Hauptkommissar Rath vom Sittendezernat und Oberkommissar Wolter, erscheinen, um sich zu amüsieren. Rath tanzt in der Spelunke. Bardamen sind oft nur stummes Requisit, deswegen sind die Komparsen erstaunt darüber, dass ich eine Sprechrolle habe. Diese Mammutproduktion hat 300 Sprechrollen, 200 Drehtage und 5000 Komparsen!

Es ist beabsichtigt, die Parallelen zwischen dem Ruf von Berlin als freie, frivole Metropole von damals und von heute spüren zu lassen. Wenn man hin und wieder auf Tanzschritte, Gesten und Sprechweisen stößt, die eher an das Hier und Jetzt erinnern, kommt das der Intention des Filmteams entgegen. Und doch wirkt tatsächlich alles sehr echt. „Als sei alles noch da, von dem wir wissen, dass es verschwunden ist", sagt Regisseur Hendrik Handloegten. Er respektiert mit Wohlwollen, dass ich kein Tuntenklischee verkörpere, sondern als eigenwilliger Charakter auftauche.

Ich hatte mich früh für das „Babylon Berlin“-Projekt beworben, wegen meiner Liebe und Begabung für diese Zeit, in der der Stummfilm noch Mainstream war. Dann kam ein Anruf von Castingchefin Simone Bär. In Folge 8 haben wir mit Dialog gedreht. Bei der Ausstrahlung ist Gloria auf stumm geschaltet, was der Aura der Figur aber nicht schadet. In Folge 9 bin ich dann mit Text und in Kittelschürze zu sehen.

„Babylon Berlin“ ist großes Kino, Geschichtsunterricht und Krimispannung. Es ist Aufklärung und ein bisschen Hollywood made in Germany. Was ich nicht so mag, ist die „reißerische Werbung" für die Serie mit der Betonung „das sündhafte Berlin". Wer von Sünde spricht, ruft schon die Gegner des Vergnügens auf den Plan. Etwas Positiveres wäre mir lieber gewesen, etwa wie: „Vergnügen ist ein Menschenrecht“.

In der Serie gibt es selbstverständlich agierende queere Charaktere. Tim Fischer als Tretschkow, mich als Gloria. Und es gibt einen homosexuellen Kommissar, der aber nicht offen lebt. Am beeindruckendsten ist für mich die Figur Svetlana Sorokina, die als Crossdresser Nikoros mit Bärtchen im Tanzlokal Moka Efti den Song „Zu Asche zu Staub" performt. Gedreht im ehemaligen Stummfilmkino Delphi in Berlin-Weißensee. Der aufregendste Spielort von „Babylon Berlin“. Die litauische Schauspielerin Severija Janušauskaitė gibt der Rolle Profil, Spannung und Style. Toll auch, dass Bryan Ferry im Moka Efti singt.

Dieter Rita Scholl

Folge 7 und 8, Donnerstag, 11.10., 20:15, ARD

Folge 9 und 10,Donnerstag, 18.10., 20:15, ARD


Dieter Rita Scholl

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