Politik: Wahlkampf

Katrin Göring-Eckhardt: „Die zunehmende Gewalt gegen queere Menschen macht mich wütend.“

10. Juli 2017
Katrin Göring-Eckhardt ist Fraktionsvorsitzende und gemeinsam mit Cem Özdemir Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen für die Bundestagswahl am 24. September (c) Weber

Frau Göring-Eckardt, in den letzten Umfragen stehen FDP und Linke vor den Grünen. Haben Sahra Wagenknecht und Christian Lindner mehr Wumms als Sie? Nein, auf unserem letzten Parteitag stand „Wumms“ ja quasi auf der Tagesordnung. Im Ernst: Gemeinsam mit Cem Özdemir und unserer tollen Basis haben wir den Parteitag gerockt und ein super Wahlprogramm beschlossen – mit klarem Bekenntnis zur Ehe für alle, Klima- und Umweltschutz und einer humanitären Flüchtlingspolitik. Cem Özdemir und ich brennen für diese Themen und bringen Regierungserfahrung mit. Wir erfahren so viel Unterstützung aus der Partei und aus der Öffentlichkeit wie nie zuvor. Da müssen wir uns nicht verstecken.


Sie werben mit Ihrer Regierungserfahrung? Sozusagen als natürliche Koalitionspartnerin für Angela Merkel?
Die wird im Wahlkampf auch betonen, dass sie weiß, wie’s läuft. Nee, ich bin keine natürliche Koalitionspartnerin, für niemanden. Wir gehen mit unseren Themen in den Wahlkampf – und nach der Wahl schauen wir, zu welchen Bündnissen es reicht. Wir wollen die große Koalition ablösen, wir wollen zweistellig werden. Wir kämpfen um den dritten Platz. Oft bestimmt der kleinere Partner die Richtung der Regierung und die muss ökologisch, sozial und weltoffen sein.

Fänden Sie es schlimm, wenn Angela Merkel weiterregiert? Ein Weiter-so geht nicht. Wer echten Klimaschutz will, wer die Vielfalt unserer Gesellschaft erhalten will, der ist bei uns Grünen gut aufgehoben. Die Bundeskanzlerin macht Umweltschutz nur in Schlagzeilen und Reden. Aber es passiert nichts. Es gibt keinen Kohleausstieg. Es gibt keine klare Ansage an die Autoindustrie nach dem Dieselskandal. Und es gibt keinen Umstieg in die nachhaltige Landwirtschaft. Da machen die Grünen den Unterschied.

Die grüne Bundestagsfraktion hat gerade einen Vorschlag für ein neues „Transsexuellengesetz“ vorgelegt. Worum geht es da? Eigentlich sollte es besser Selbstbestimmungsgesetz heißen, denn darum geht es. Trans* Menschen sollen selbst entscheiden können, welchen Namen sie tragen und welches Geschlecht in den Unterlagen – bis hin zur Geburtsurkunde – eingetragen wird. Es soll keinen Begutachtungszwang mehr geben. Nur Betroffene können über ihre eigene Identität befinden. Statt juristischem Gewürge ein simpler Verwaltungsakt.

Und wenn die AfD im Wahlkampf Ihren Vorschlag benutzt, um gegen den „Genderwahn“ zu pöbeln? Vor der AfD werden wir uns sicher nicht verstecken. Mit Gegenwind werden wir erst richtig gut. Minderheitenrechte sind eine Kernfrage unserer Gesellschaft. Ich kämpfe nicht dafür, damit ein paar Freunde es einfacher haben, sondern weil ich in einem Land leben will, wo jeder Mensch die gleichen Rechte hat. Ich bin in der DDR aufgewachsen. Die Freiheits- und Bürgerrechte waren ein zentraler Antrieb für mich, gegen das damalige System aktiv zu werden. Und sie treiben mich noch immer an.

Gesetze stehen auf dem Papier. Was wollen Sie noch gegen Diskriminierung tun? Die zunehmende Gewalt gegen queere Menschen, Homophobie, macht mich wütend. Schon der Begriff ist ja falsch. Das ist keine Krankheit, an der die Täter leiden, sondern sie benehmen sich schlicht und einfach wie Arschlöcher! Damit sich dieser Hass nicht ausbreitet, müssen wir für umfassende Präventionsprogramme sorgen. Ich bin sehr froh darüber, dass es in Hessen gelungen ist, einen großen, landesweiten Aktionsplan für Akzeptanz und Vielfalt vorzulegen, der bis in die Schulen hineinwirkt. Ich hätte nicht gedacht, dass das ausgerechnet mit der konservativen Hessen-Union funktioniert. Da sieht man, was man erreichen kann. Grün wirkt eben. So was brauchen wir auch für den Bund, auch da hat die große Koalition versagt.

Nach dem Absturz bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen haben Sie gesagt, sie machen jetzt „mehr Angriff“. Wann haben Sie zuletzt so richtig ausgeteilt? Mein letzter Großangriff war die Sicherheitspolitik. Ich erlebe einen Bundesinnenminister, der immer rumläuft und schreit „Haltet den Dieb!“, aber der Dieb ist er selber. Die Union ist, mit kurzer Unterbrechung, seit Jahrzehnten für innere Sicherheit zuständig. Deshalb ist sie auch verantwortlich für das Versagen unserer Sicherheitsorgane: NSU-Skandal, NSA-Skandal, der Fall Amri. Der Innenminister kommt immer wieder mit neuen Gesetzesverschärfungen, die nichts nutzen, weil nicht einmal die alten Gesetze zur Anwendung kommen. Von uns Grünen bekommen die Bürger gute Polizeiarbeit statt symbolischer Gesetze.

Die Grünen wollen mit Polizeithemen Wahlkampf machen? Ja, es geht um die Sicherung der Bürgerrechte jedes einzelnen Menschen. Wir dulden nicht, dass Frauen belästigt werden, dass es Übergriffe auf Obdachlose oder Homosexuelle gibt. Wir sorgen dafür, dass die Polizei genug Personal hat, um jeden Einzelnen effektiv schützen zu können. Es bringt nichts, ständig neue Geräte wie Überwachungskameras oder Fußfesseln einzuführen. Das haben wir im Fall des Berliner Attentäters Anis Amri gesehen: Der hätte festgenommen werden können, aber es ist nicht passiert.

Das sind neue Töne! Bei der äußeren Sicherheit klingt Ihr Zehn-Punkte-Plan dagegen vertraut: Kein Geld für Aufrüstung! Schon gar keine zwei Prozent des Bundeshaushalts, wie es die NATO vereinbart hat. Das bedeutet aber: Die Europäische Union bleibt abhängig von den USA – und von Donald Trump. Haben Sie sich mit Trump abgefunden? Nein, wer könnte das schon? Wir brauchen in der Tat mehr europäische Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik. Aber das Zwei-Prozent-Ziel der NATO ist Quatsch, weil damit nur Ausgaben für Rüstungsgüter gemeint sind. Wir müssen mehr investieren – aber in Krisenprävention und in Entwicklungszusammenarbeit. Damit kommen wir viel weiter als durch Aufrüstung. Wir brauchen eine NATO, die funktioniert – trotz Donald Trump. Das bedeutet, dass die europäischen Länder ihre Verteidigungsaufgaben sinnvoll untereinander aufteilen. Es ist unnötig, dass jedes Land alle Aufgaben alleine macht.

Was bedeutet denn Krisenprävention? Das beginnt mit Entwicklungszusammenarbeit, die den Namen verdient. Wir müssen an die Strukturen ran. So darf es die internationale Agrarindustrie den kleinen Ländern nicht noch schwerer machen. In vielen Regionen der Welt wird nur noch Futtergetreide für den Westen angebaut – anstatt Essen für die Menschen vor Ort. Das wollen wir beenden! Es geht nicht darum, irgendwohin Geld zu schaufeln, sondern Wirtschaftsstrukturen zu verändern. Und die müssen langfristig halten. Das ist mir alles sehr viel wichtiger als zwei Prozent in sinnlose Waffenkäufe zu stecken.

Auch in Deutschland wollen Sie die Landwirtschaft umbauen. In zwanzig Jahren sollen alle Höfe auf artgerechte Tierhaltung umgestellt haben. Das bedeutet, dass die Preise für Lebensmittel steigen. Das spüren vor allem Leute, die wenig verdienen. Im Gegenteil: Massentierhaltung und Umweltzerstörung kosten uns alle richtig Geld. Wegen der Nitratbelastung kann Trinkwasser um 45 Prozent teurer werden. Der wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik hingegen hat ausgerechnet, dass deutliche Verbesserungen beim Tierschutz zu moderaten Preisanstiegen fürs Fleisch von drei bis sechs Prozent führen würden. Das sollte unser Essen wert sein. Wir wollen die hohen Subventionen, die Brüssel in die Landwirtschaft steckt, umlenken und damit eine artgerechte Tierhaltung fördern. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf, dass ihr Essen anständig produziert wird und nicht der Gesundheit schadet.

Also kein Veggie Day für Deutschland? Der Veggie Day war ja keine Forderung, sondern ein Vorschlag. Aber wir haben gelernt: Solche Vorschläge werden leicht als Forderungen verstanden. Deshalb noch einmal ganz deutlich: Es geht um das große Ganze. Selbst wenn wir uns alle darauf einigten, nur noch einmal die Woche Schnitzel zu essen, wäre die Erderhitzung noch lange nicht gestoppt. Wir müssen an die Strukturen ran und das mit langem Atem.

Noch eine Frage zur Altersarmut. Sie haben Gerhard Schröder dabei geholfen, die Riester-Rente durchzusetzen. Die erklären Horst Seehofer und Sahra Wagenknecht jetzt einmütig für gescheitert. Stimmt das? Na ja, in der bisherigen Form geht es nicht weiter. Wir sollten alle drei Säulen stärken: gesetzliche Rente, Betriebsrente und private Vorsorge. Wir wollen das Rentenniveau stabilisieren und die private Vorsorge durch Zuschüsse auch Geringverdienern ermöglichen. Wer viele Jahre eingezahlt hat, soll von seiner Rente auch leben können! Das Rentensystem hat ja derzeit vor allem ein Problem: Diejenigen, die schon heute wenig verdienen, bekommen später nur eine winzige Rente: die Pflegekraft, die Krankenschwester, der Solo-Selbstständige.


Deshalb fordern die Grünen einen Bürgerfonds. Können Sie den kurz erklären? Es ist ein einfacher, kostengünstiger und sicherer Baustein in der privaten und betrieblichen Altersvorsorge als Antwort auf die Probleme von Riester und Betriebsrenten. Das Sozialversicherungssystem kann man nicht von heute auf morgen umkrempeln, aber die ersten Schritte wollen wir machen. Der Fonds ist eine Vorsorgemöglichkeit für die Menschen, die sich eine private Rentenversicherung sonst nicht leisten können. Als Erstes wollen wir sie den kleinen Selbstständigen anbieten, die häufig nicht ausreichend abgesichert sind.


Bleibt es bei der Rente mit 67? Am Renteneintrittsalter sollten wir festhalten. Wichtig ist es doch, dass der Übergang in die Rente flexibler wird. Denn die Situation ist von Branche zu Branche sehr unterschiedlich. Die einen sagen mit 67: „Ich kann nicht mehr!“, die anderen würden gerne noch weiterarbeiten. Das sollte nicht der Staat festlegen, sondern jeder selbst entscheiden. Altersteilzeit muss leichter möglich sein.


In den Ohren überzeugter Linker klingt das verdächtig flexibel und neoliberal. Fühlen Sie sich eigentlich als Linke?
Ich bin Ökologin und froh, dass ich mich nicht in die alten Lager einsortieren muss. In manchen Punkten bin ich konservativ, zum Beispiel weil ich die Ehe für eine gute Sache halte. In anderen Fragen bin ich sehr progressiv, zum Beispiel bei Klimaschutz und Energieversorgung. Und beim Flüchtlingsschutz gelte ich als Fundi.

Was ist denn an der Ehe so toll? Die Verbindlichkeit. Das ist eine gute Einrichtung, auch wenn ich selbst gerade damit gescheitert bin.


Und was können Sie als Wahlkämpferin von Donald Trump lernen?
Gar nichts. Ich möchte noch nicht einmal lernen, nachts zu twittern. Zu der Zeit möchte ich lieber mit meinen Freunden auf dem Balkon sitzen, tanzen gehen oder einfach schlafen. Von Donald Trump muss ich mir nichts abgucken.

Interview: Philip Eicker

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