Diskussion um den Berliner Tiergarten

Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel: „Ich unterstelle niemandem, dass er Prostitution schönredet"

11. Okt. 2017
Bild: siegessäule
Stefan van Dassel, Bezirksbürgermeister von Mitte, (li.) und Jan Noll, Chefredakteur der SIEGESSÄULE

Die SIEGESSÄULE beschönige Sexarbeit im Cruising-Park Tiergarten: so zitierte die Berliner Morgenpost den grünen Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel. Bloß ein Missverständnis? Wir luden ihn zu uns in die Redaktion ein, sprachen mit ihm über seine Aussagen und die Probleme im Tiergarten

In einer Reportage der Berliner Morgenpost vom 8. Oktober über Probleme im Berliner Tiergarten nahm der Bezirksbürgermeister von Berlin Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), auch die queere Community in die Pflicht und kritisierte Szenemedien. Bezogen auf die Prostitution von jungen, männlichen Geflüchteten im bekannten Cruisingpark Tiergarten sagte er laut Morgenpost, es könne nicht sein, „dass in Magazinen wie der ‚Siegessäule‘ diese Art von Prostitution im Park auch noch als Touristenattraktion dargestellt werde“. Neben der SIEGESSÄULE sehe er außerdem den LSVD in der Pflicht, hier etwas zu unternehmen.

Die Aussage rief einige Aufregung hervor. Wir haben von Dassel kontaktiert und zu einem Interview in die Redaktion eingeladen.

Herr von Dassel, die Berliner Morgenpost hat in ihrem Artikel „Die dunkle Seite des Tiergartens“ relativ reißerisch über die schwierige Situation im Tiergarten berichtet. Worin genau bestehen die derzeitigen Probleme dort? Das ist richtig, dass die Presseberichterstattung hierzu etwas unglücklich war. Vielleicht habe ich mich an der einen oder anderen Stelle auch etwas missverständlich ausgedrückt. Es geht vor allem um das Thema Wohnungslose aus den EU-Staaten Südosteuropas aber auch um Prostitution, Drogenkonsum. Gärtnerinnen und Gärtner berichten, dass ihre erste Tätigkeit am Morgen ist, erstmal einen Eimer voll Spritzen in der Nähe des Spielplatzes einzusammeln. Das ist dramatisch.

Diese Konzentration auf den Tiergarten ist ein neues Phänomen? Nein, das ist kein neues Phänomen und auch nicht nur auf den Tiergarten beschränkt. Das haben wir in anderen Grünanlagen auch, in der Hasenheide zum Beispiel. Was uns eben Sorgen macht, ist, dass die Zahl der Personen steigt. Und die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der Personen steigt ebenso und damit auch die Unkontrollierbarkeit. Wir erleben das auch am Hansaplatz. Wenige Personen beeinträchtigen ein großes Gebiet.

Würden sie so weit gehen, dass Teile des Tiergartens zu einem rechtsfreien Raum werden? Wir müssen aufpassen, dass das nicht passiert.

Sie hatten es bereits angesprochen, ein Problem ist eben auch die männliche Sexarbeit. Im Rahmen der Morgenpost-Berichterstattung hatten sie gesagt, dass Magazine wie die SIEGESSÄULE „diese Art der Prostitution“ als Touristenattraktion bewerben würden. Was genau haben sie denn damit gemeint? So habe ich das nicht gesagt. Das möchte ich jetzt auch nochmal klarstellen. Ich unterstelle niemandem – weder der Siegessäule noch dem LSVD – dass er Prostitution schönredet. Ich habe darauf verwiesen, dass wir unterschiedliche Probleme im Tiergarten haben. Natürlich ist der Tiergarten, und das zieht dann manchmal Prostitution nach sich, auch als Sexort, als Cruising-Area etabliert. Ich habe gefragt, ob wir uns einen Gefallen tun, wenn der dann auch noch als solcher propagiert und als besondere Attraktivität in Berlin herausgestellt wird. Allerdings muss ich zugeben, dass ich da ein bisschen aus der hohlen Hüfte geschossen habe und mich nicht auf eine spezielle Veröffentlichung oder Äußerung von wem auch immer bezogen habe. Da war ich vielleicht noch etwas irritiert von einer Aussage der Polizei, die mir sagte, dass sie gerne für mehr Kontrolle und Sicherheit sorgen würde, aber nicht richtig könne, da der Tiergarten und das Cruising-Gebiet dort eine touristische heilige Kuh sei und sie deshalb nicht dürfe. Dabei ist sicherlich etwas durcheinander gegangen.

Es gab bei uns natürlich nie eine Berichterstattung, die Prostitution oder auch nur das Cruisen im Tiergarten als besondere Touristenattraktion herausgestellt hätte. Aber tatsächlich hat das Cruisen in öffentlichen Parks, das braucht man nicht kleinreden, innerhalb der schwulen Subkultur eine lange historische Tradition. Das kommt in allen großen Städten, aber auch auf dem Land in Wäldern, auf Parkplätzen oder an Badeseen vor. Was wäre denn ihr Appell an schwule Männer, die gerne im Tiergarten cruisen gehen wollen? Wir haben immer mit Abfall zu tun: Bei den Drogensüchtigen sind es die Spritzen, bei den Wohnungslose die verrotteten Dinge oder bei einvernehmlichen Sex die Kondome. Wenn dem Gartenarbeiter mit dem Laubbläser die Kondome um die Ohren fliegen, ist das nicht schön. Es gibt jetzt demnächst wieder eine Aktion mit Maneo, um dort ein bisschen aufzuräumen. Ich persönlich habe Cruising immer so verstanden, dass es sich dabei um Anbahnung, um Kennenlernen handelt, das muss nicht unbedingt der Vollzug sein. Der ist in Grünanlagen nicht zulässig. Ich würde mir wünschen, dass diese Trennung eingehalten wird. Man muss nicht unbedingt in die Büsche kriechen. Ich gebe aber gerne zu, dass das ein untergeordnetes Problem ist im Vergleich zu dem, was wir gerade in anderen Bereichen erleben.

Genau. Es gibt Gewalt, Kriminalität, Drogenprobleme, sogar einen Mord. Vor allem bei der Prostitution handelt es sich ja um ein strukturelles Problem. Es geht um Menschen mit unterschiedlichen, oft ungewissen Aufenthaltsstatus, die prekär leben müssen und teilweise keine Möglichkeit haben, Jobs zu bekommen und auf eine andere Art und Weise an Geld zu kommen. Ist es denn nicht Aufgabe der Politik, die Situation von Geflüchteten und anderen zu verbessern, damit sie sich nicht prostituieren müssen? Kein geflüchteter Mensch muss sich prostituieren. Wenn er hier als Flüchtling registriert ist, bekommt er entweder Leistungen nach dem ALG 2, also Jobcenter-Leistungen, weil er anerkannt ist und hier bleiben darf. Oder eben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, weil er gehen muss, aber vielleicht im Moment nicht gehen kann. Afghanistan, Eritrea und so weiter. Und selbst, wenn er ausreisen muss, bekommt er noch einen Vermindertensatz. Ich weiß, dass das alles nicht viel ist, aber es ist nicht so, dass er hungern würde, wenn er sich nicht Geld über die Prostitution verdient. Natürlich ist es nachvollziehbar, dass wenn man sich auf leichte Weise Geld erwirtschaften kann, dass diese Möglichkeit dann auch genutzt wird.

Ist das also eine Situation, aus der es aus politischer Sicht kein Entrinnen gibt? Prostitution hat es immer gegeben. Wir sehen ja an der Kurfürstenstraße das gleiche Phänomen. Nur eben mit Frauen, und da vor allem aus EU-Ländern und weniger mit Fluchthintergrund. Das ist das Ergebnis eines großen Wohlstandsunterschiedes innerhalb Deutschlands, und von Deutschland zu anderen Ländern, in Europa oder weltweit. Das kann man beklagen, aber nicht ändern. Man kann nur die Verhältnisse vor Ort weniger schlimm machen. Und da finde ich schon, dass die Politik die Aufgabe hat, Regeln und Ordnung so durchzusetzen, dass alle, die damit nichts zu tun haben, nicht beraubt, nicht belästigt oder bedrängt werden.

Jetzt legt der Morgenpost-Artikel nahe, dass es Unterschiede gäbe bei der Frage, woher die Menschen kommen, die sich im Tiergarten aufhalten. Das Problem mit Drogen und Alkoholismus wird eher bei Menschen aus Osteuropa verortet, wohingegen das Prostitutionsproblem eher in arabischen Zusammenhängen zu suchen sei. Sind das irgendwelche belegten Zahlen? Deckt sich das mit ihrem Eindruck? Wie kommt es zu einer solchen Einschätzung? Das ist ein Eindruck, der sich mit unserem deckt. Der ist aber nicht statistisch erhoben. Wir zählen ja noch nicht mal unsere Wohnungslosen. Das klingt jetzt hart, aber man müsste eigentlich schon mal wissen, ob wir hier jetzt 500, 1.000 oder 15.000 haben. Soziale Projekte, die versuchen, insbesondere junge Erwachsene zu erreichen, berichten uns, dass auch Leute mit einer Aufenthaltsgenehmigung und einem positiv beschiedenen Asylantrag zu Drogen kommen. Prostitution ist oft Beschaffungskriminalität – in Anführungszeichen – weil der Drogenkonsum sicher nicht mit ALG 2 zu finanzieren ist. Die Frage ist: Wie sind die Leute da rein geraten?

Und wie lautet ihre These dazu? Jede Geschichte ist ganz individuell. Ich kenne das aus meinen Erfahrungen, wenn ich im Winter mal bei der Kältehilfe bin, sitze ich mit vier Leuten am Tisch und jeder erzählt eine Geschichte, die man überhaupt nicht miteinander vergleichen kann. Da spielt schon auch eine Rolle, wie man persönlich mit Frust und Niederlagen umgehen kann Bei geflüchteten Menschen haben wir alle unterschätzt – obwohl das immer alle gesagt haben – wie viele Traumatisierungen diese Menschen oft haben. Die sind aus zerstörten Städten, mit zum Teil getöteten Freunden und Verwandten gekommen. Hier haben sie eine Hoffnungsperspektive: Endlich in Sicherheit, es geht aufwärts. Und plötzlich sitzen die im zweiten Jahr in der Notunterkunft, das Deutsch lernen ist schwierig, irgendjemand von ihnen hat's geschafft, der will dann aber nicht mehr viel mit ihnen zu tun haben. Das ist psychisch eine irre Belastung, insbesondere für die jungen Männer, die eben hier keine Familienstrukturen haben. Und dann erwartet die Familie in der Heimat vielleicht auch noch, dass man Geld schickt, und man ist eigentlich selber völlig am Ende.

Prostitution also auch als Ergebnis von Traumatisierung? Das ist das, was wir erleben. Wir wissen, dass in religiös geprägten arabischen Kontexten der Schritt, sich anzubieten, ein noch größerer ist. Anders als vielleicht für jemanden, der in Berlin total liberal und frei aufgewachsen ist und für den das einfach Sexarbeit ist, und der da kein Problem sieht, solange es fair zugeht.

Laut Morgenpost sagten sie, dass der LSVD als Interessenvertretung von Lesben, Schwulen trans* Menschen etc. in Deutschland in der Pflicht sei, etwas gegen die Situation im Tiergarten zu tun. Sprich gegen die Prostitution, vielleicht auch gegen das Cruising. Ich würde ja sagen, es ist nicht die Pflicht des LSVD, dagegen etwas zu tun, sondern die Pflicht der Bundespolitik und des Berliner Senats. Ja, da bin ich ganz bei ihnen. Das war missverständlich ausgedrückt und dann nochmal missverständlich interpretiert. Innerhalb der Cruising-Szene gibt es schon die Frage, wann man Angebote von jungen Männern annimmt. Unter welchen Bedingungen kann man sagen, es ist moralisch in Ordnung und wo muss man sagen, dass es sich um das Ausnutzen einer Notlage handelt? Wir brauchen ein breites Bündnis, um alle Faktoren im Tiergarten wieder so aufzustellen, dass er uns nicht entgleitet. Aber natürlich ist das Cruising nur fünf Prozent des Problems. Insofern sind weder SIEGESSÄULE noch der LSVD besonders in der Pflicht. Wir müssen uns als Land Berlin irgendwann mal mit Folgendem auseinandersetzen: Es gibt keine Obergrenze bei Flüchtlingen, dazu stehe ich, aber gilt das auch für eine Armutszuwanderung aus Süd- und Osteuropa? Wenn wir auf den anderen Seite sagen: Sozialleistungen kriegen die nicht? Ihr dürft hier gerne sein, aber von uns kriegt ihr keinen Cent?

Was wünschen sie sich perspektivisch im Rahmen möglicher Maßnahmen – von mir aus auch in Kooperation mit Playern aus der LGBTI-Community? Wie soll es weiter gehen? Sie hatten zurecht gesagt: Die Politik ist gefordert. Sie muss sich ehrlich mit der Frage auseinandersetzen, wie viele Menschen aus EU-Ländern aus Armut und für bessere Perspektiven zu uns kommen, aber hier keine Perspektive finden. Wie gehen wir damit um? Und man muss natürlich im Kleinen auch schauen, was es für Fehlnutzungen im Tiergarten gibt. Klar, den Sexort Tiergarten finde ich als Anbahnungsort sympathisch, als Vollzugsort schwierig. Wir sind froh, wenn alle Kondome nutzen, aber wenn die auf den neuen Rosenstöcken hängen, ist das einfach kein schöner Anblick.

Ich muss schmunzeln: Wir hatten vor über 10 Jahren ein SIEGESSÄULE-Cover, auf dem eine Rose oder eine andere Pflanze abgebildet war, und über dieser Pflanze hing ein Kondom. Im Tiergarten aufgenommen. Dieses Problem ist also nicht neu. Aber ernsthaft und noch einmal: Was ist ihr Appell an den schwulen cruisenden Mann, der in den Tiergarten geht? Da weiß ich nicht, ob ich in der Lage bin, hier zu appellieren. Es gilt wie für alle anderen auch, sich so zu verhalten, dass man die Freiheit der anderen nicht stört. Man nimmt sich selbst Freiheit, das gehört zu Berlin, aber dann sollte man eben nicht die Freiheit der anderen durch Abfall oder Zerstörung von Grünanlagen beeinträchtigen. Natürlich – und da haben wir ja einen klaren Konsens – Finger weg von Minderjährigen.

Interview: Jan Noll

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