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„Wir brauchen eine neue, zeitgemäße Lesbenbewegung!“ – Zur Buchpremiere von „Lesben raus!“

8. Nov. 2017
Bild: © Marcus Witte
Jan Noll und Stephanie Kuhnen

SIEGESSÄULE-Chefredakteur Jan Noll diskutiert mit Stephanie Kuhnen, Herausgeberin des Buches „Lesben raus!“, über Politik, lesbische Sichtbarkeit und welche Rolle schwule Männer dabei spielen

Zusehends rückt ein Thema in den Fokus der LGBTI-Politik, das viel zu lange ins Abseits gedrängt wurde: lesbische Sichtbarkeit. Einen Beitrag zur Debatte leistet nun das Buch „Lesben raus!“, herausgegeben von Stephanie Kuhnen. Jan Noll traf sie zum Gespräch

Stephanie, findest du es doof, dass ich als schwuler Mann mit dir über lesbische Sichtbarkeit rede? Auf gar keinen Fall. Warum?

Es gibt einen Text im Buch „Lesben raus!“, das von dir herausgegeben wurde, in dem ein Autor sich quasi dafür entschuldigt, als Mann in diese Debatte einzusteigen. Das ist keine Entschuldigung, ich habe ihn ja eingeladen zum Buch beizutragen. Christoph R. Alms reflektiert, wie viele andere AutorInnen, die eigene Sprechposition. Mir war wichtig, möglichst viele Perspektiven auf lesbische Sichtbarkeit abzubilden. Da geht es um Kompetenz und nicht primär darum, ob jemand weiblich oder männlich ist. Wir sollten die Debatte um lesbische Sichtbarkeit nicht in Konkurrenz zueinander führen. Lesbische Sichtbarkeit wird leider an der Sichtbarkeit von Schwulen gemessen. Schwuler Sexismus kann ein Faktor in der Unsichtbarkeit von Lesben sein. Aber eben nicht immer und nicht nur. Das, was wir Community nennen, ist derzeit mehrheitlich auch eine Zusammenarbeit von Schwulen und Lesben mehrerer Generationen und verschiedener Herkunft.

Manuela Kay beschreibt in ihrem Text die Öffnung der Ehe quasi als den Sargnagel der lesbischen Sichtbarkeit. Eine progressive, sichtbare Sexualität und Identität werde aufgegeben zugunsten eines neuen Biedermeiers. Lesben würden sich durch das Angebot der Ehe ins Private zurückziehen – eine Entwicklung, die sie bei Schwulen so nicht sieht. Ich schätze das an dieser Stelle nicht so absolut ein. Wir haben dieses Bild im Kopf: Alle Lesben wollen heiraten. Ist das tatsächlich so? Da fehlt uns wie so oft das Zahlenmaterial. Die Ehe für alle ist in den 90er-Jahren zu einem primären Ziel erklärt worden. Sich darauf zu fokussieren hat wiederum ganz viel anderes unsichtbar gemacht. Zum Beispiel den massiven Widerstand von Lesben gegen eine finanziell geförderte Beziehungsform. Die Ehe ist eben auch ein Machtinstrument zur Selbstkontrolle. Deswegen befindet sich im Buch ja auch ein Text von Gwendolin Altenhöfer zur Kultur der lesbischen Mehrfachbeziehungen.

In Berlin sind wir in der privilegierten Position, dass zum ersten Mal die Agenda „lesbische Sichtbarkeit“ im Rahmen eines Koalitionsvertrages auftaucht. Naiv gefragt: Kann man lesbische Sichtbarkeit vonseiten der Politik steuern? Natürlich, da kann man sehr viel machen, und nicht nur vonseiten des Senates. In den Antidiskriminierungsstellen vieler Städte im ganzen Bundesgebiet entwickelt sich ja auch eine zunehmende Sensibilisierung für das Thema. Es gibt diese große Erzählung von der sich stetig und unumkehrbar verbessernden Demokratie: Besonders Frauen gelten als „befreit“ und gleichberechtigt. Das stimmt so nicht. Dazu werden auch viele neue Studien veröffentlicht. Um lesbische Sichtbarkeit herzustellen, müssen erst mal geschlechtergerechte Förderrichtlinien entwickelt werden, es darf da keinen Etikettenschwindel mehr geben. Nicht überall, wo „homosexuell“ draufsteht, sind auch Lesben drin, obwohl sie die „andere“ Hälfte davon sind.

Das rechnet Birgit Bosold in ihrem Text auf: 2016 wurden 3,7 Millionen Euro vom Berliner Senat an LGBTI-Projekte vergeben, davon 46 Prozent an rein schwule und nur 18 Prozent an rein lesbische Projekte ... Das ist natürlich sehr deutlich, wie da Wichtigkeiten verteilt werden. Man muss aber auch genau hinschauen, wie inklusiv die einzelnen, geförderten Projekte arbeiten, wen und welche Ziele diese vertreten, wie sie diese vertreten und wer tatsächlich profitiert. Der LSVD Berlin-Brandenburg beispielsweise hat ein L im Namen, immer nur schwule Geschäftsführer, im Vorstand keine Lesbe und beansprucht im Interesse von Lesben Emanzipationspolitik in die Mehrheitsgesellschaft zu tragen. Ein Bewusstsein für lesbische Themen und die Unterstützung von lesbischer Visualität sind spätestens durch das unrühmliche, lesbenfeindliche Gebaren um das Gedenken an die inhaftierten und ermordeten Lesben in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück gegenteilig belegt. Es wurde bewusst von schwulen Männern gegen lesbische Interessen bevormundend taktiert. Es wäre absolut undenkbar, dass Schwule sich von einem rein lesbischen Vorstand in ihren Interessen vertreten lassen würden. Zu Recht: es geht um Selbstvertretung in einem Bündnis. Wenn keine Lesbe drin ist, dann wird das L zur Farce, obwohl viele Männer gerade gerne „lesbische Sichtbarkeit“ zu ihrem Modethema machen.

Was können Lesben selbst tun, damit lesbische Sichtbarkeit nicht zum kurzlebigen Modethema wird?
Arbeiten. Sich nicht in Abgrenzungen und Schuldzuweisungen verlieren. ExpertInnen und Generationen zusammenbringen. Sich nicht entsolidarisieren mit anderen Gruppen, aber dennoch sehr genau die eigenen Interessen definieren und nicht in Kompromissen abschleifen lassen oder in die Unkenntlichkeit inkludieren. Die Maximalanforderung ist eine Neupositionierung: Wir brauchen eine neue, zeitgemäße Lesbenbewegung!

Kann lesbische Sichtbarkeit nur in der Allianz mit Schwulen gelingen?
Ja und nein. Ich glaube, es gibt viele mögliche Strategien. Natürlich muss jede Lesbe bei sich selbst anfangen und fragen: Was kann ich tun, wie kann ich handeln, was bin ich bereit zu investieren und auch zu riskieren? Sichtbarkeit muss an vielen Orten erst mal eigenverantwortlich hergestellt werden, und ja, natürlich können Schwule sich mit dafür einsetzen, weil sie über die Ressourcen verfügen und eben überall präsent sind. Sie haben die Macht zu unterstützen. Das muss auch verlangt werden, wenn es um ein tatsächliches Bündnis geht.

Du schreibst, dass heute, wo alles und jeder queer sein kann, lesbische Belange in einer männlich dominierten Gesellschaft und Community nicht mehr sichtbar gemacht werden können. Fällt die Lesbe im Queer-Diskurs hinten runter? Ja, tut sie. Im Bild der Leute gehören die Lesben zur schwul-lesbischen Bewegung und dementsprechend zu einer Mehrheit in der Minderheit. De facto haben Lesben aber weniger Macht! Zum Beispiel in der Geschichtsforschung, wie ist das mit Zeitzeuginneninterviews? Uns sterben gerade ganze Generationen weg und Förderungen kommen nicht aus dem Knick. Und dann behauptet man, dass so viel getan wird. Aber es passiert nichts. Gleichzeitig haben wir eine große Gruppe, die sitzt gut gesättigt am Buffet des Bürgermeisters und die interessiert das alles gar nicht. Wir haben innerhalb dieser Community eine Form von Klassismus. Das sind Themen, zu denen wir noch sehr viel reden müssen.

Interview: Jan Noll


Stephanie Kuhnen (Hg.): „Lesben raus! Für mehr lesbische Sichtbarkeit“, Querverlag, 280 Seiten, 16,90 Euro

Buchpremiere, 10.11., 20:30, Eisenherz

Party: Lesben raus! Wir feiern unsere Sichtbarkeit, 09.12., 19:00, Ludwig

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