Interview mit Kirsten Plötz

Lesbische Mütter verloren ihre Kinder

18. Juni 2018 Franziska Schultess
Bild: Annette Schulz
Kirsten Plötz, freiberufliche Historikerin und Vorstandsmitglied im Dachverband Lesben und Alter e. V. © Annette Schulz

Die Problematik ist bis heute kaum aufgearbeitet und betraf doch vermutlich Tausende Frauen: lesbischen Müttern konnte bis in die 90er Jahre das Sorgerecht entzogen werden. Aus Angst davor verheimlichten viele, dass sie lesbisch waren. Ein Forschungsprojekt in Rheinland-Pfalz widmet sich nun diesem Thema. Wir sprachen mit der Historikerin Kirsten Plötz vom Projekt

Frau Plötz: Lesbischen Müttern wurden von deutschen Gerichten die Kinder weggenommen? Genau. In der Bundesrepublik wurde Müttern das Sorgerecht entzogen, wenn den Gerichten bekannt wurde, dass sie lesbische Beziehungen hatten. Das war der einzige Grund. Für die Gerichte hat das gereicht zu sagen, es diene nicht dem Kindeswohl, bei der Mutter zu bleiben.

Für die Gerichte hat das gereicht zu sagen, es diene nicht dem Kindeswohl, bei der Mutter zu bleiben.

Wie viele Frauen hat das betroffen? Wir vermuten, viele Tausend. Betroffen hat es ja nicht nur die, die tatsächlich das Sorgerecht verloren. Allein die Drohung konnte schon erhebliche Auswirkungen haben: etwa wenn eine Frau bei einer Scheidung alle Bedingungen ihres Mannes akzeptierte, damit dieser vor Gericht nichts von ihren lesbischen Beziehungen verriet. Ich bin da immer wieder auf Quellen gestoßen, aus den 70er-, 80er-, bis in die 90er-Jahre, die gesagt haben: Das ist üblich. Das ist normal, dass der Mann damit droht. Einige lesbische Paare haben mir auch erzählt, dass sie sich bewusst dafür entschieden haben, ihre Beziehung geheim zu halten – weil sonst die Kinder weg gewesen wären. Das  heißt, das muss eine gängige Praxis der Gerichte in der jungen BRD gewesen sein. Genaue Zahlen gibt es aber bislang nicht.

Ihre Forschung ist die erste bundesweit dazu? Ja, die erste historische Forschung. Wir arbeiten erst einmal nur zu Rheinland-Pfalz und stehen auch damit noch ziemlich am Anfang. In der Lesbenbewegung ab den 80er-Jahren waren einige der Gerichtsfälle durchaus bekannt, ab und zu wurde auch etwas dazu veröffentlicht. Aber es ist nichts ins gesellschaftliche Gedächtnis eingeschrieben worden als Thema von Repression. Auch unser Projekt ist nicht entstanden, weil uns schon lange bewusst war, dass man das dringend erforschen muss. Es hat sich vielmehr aus einem anderen Forschungsprojekt ergeben. Das Land Rheinland-Pfalz wollte die Verfolgung Homosexueller nach dem Strafrechtsparagrafen 175 im jungen Bundesland erkunden. Ich habe den Forschungsauftrag zum lesbischen Teil übernommen, mir mehrere Rechtsbereiche angesehen und bin dabei auf die Problematik des Sorgerechtsentzugs gestoßen. Momentan suche ich nun ZeitzeugInnen: Mütter, aber auch deren Freundinnen und betroffene Kinder.

Ist es schwer, solche ZeugInnen zu finden? Ja. Das ist im lesbischen Bereich allgemein viel schwieriger, als wenn man etwa nach den Auswirkungen des 175er auf schwule Männer fragt.

Warum? Schwer zu beantworten. Man ist sich heute in der gesellschaftlichen Debatte ja, zum Glück, im Wesentlichen darüber einig, dass die Verfolgung nach dem 175er ein Unrecht war. Da ist es natürlich leichter, an die Öffentlichkeit zu gehen und zu sagen, mich hat dieses Unrecht auch betroffen, als wenn es noch gar keine Debatte darüber gibt. Viele Frauen denken erst mal, was ich zu erzählen habe und was mir passiert ist, das ist doch nicht so bedeutend.

Eine systematische strafrechtliche Verfolgung lesbischer Frauen – analog zum Paragrafen 175, der schwule Handlungen bestrafte – gab es ja nun nicht. Kann man trotzdem von einer staatlichen Repression gegen Lesben in dieser Zeit sprechen? Einige wenige Frauen wurden auch nach dem 175er verurteilt – vermutlich aber wegen „Beihilfe“, nicht wegen lesbischer Sexualität. Außerdem gab es den sogenannten Kuppelei-Paragrafen, mit dem jede außereheliche sexuelle Handlung bestraft werden konnte. Inwieweit das gegen lesbische Beziehungen angewandt wurde, wissen wir nicht. Auch dazu müsste man erst systematisch forschen. Staatliche Repression fand ja aber auch außerhalb des Strafrechts statt. Das ist mir wichtig zu betonen: Man muss in verschiedenen Bereichen suchen, wenn man etwas über Diskriminierung und Repression wissen will.

Welche Bereiche meinen Sie zum Beispiel? Da lässt sich einiges nennen. Etwa das Eherecht. Wir wissen von vielen Frauen ab dem Geburtsjahr 1930, die lesbisch waren, die aber Männer heirateten, weil sie sich nichts anderes vorstellen konnten und der normative Druck sehr hoch war. Das heißt, wenn wir etwas über lesbische Geschichte wissen wollen, müssen wir die Situation in der Ehe mit einbeziehen.

Wie sah das Eherecht denn damals aus? Es war darauf ausgelegt, dass der Mann möglichst alles bestimmen sollte. Das gestaltete sich für die Frauen oft recht ausweglos. Ein Beispiel: wenn sich die Ehefrau in eine Kollegin verliebte, konnte der Mann nicht nur den Arbeitsvertrag der Frau kündigen lassen. Er konnte auch die Kinder zu den Großeltern oder sonst wohin schicken, und einen Umzug des lesbischen Paares veranlassen. Ein anderer Bereich, auf den man schauen muss, um die Situation für lesbische Frauen damals zu verstehen, ist der Jugendschutz. Die Jugendschutzbehörden in Rheinland-Pfalz trugen etwa aktiv dazu bei, dass über lesbische Liebe geschwiegen wurde. Bücher, die lesbische Figuren als normal oder gesellschaftlich nützlich darstellten, setzten sie auf den Index. Die galten ihnen als „gefährlich“ für die Jugend. Und dann gab es eben auch die Fälle von Sorgerechtsentzug durch die Justiz, zum Teil mit Beteiligung der Jugendämter, zu denen ich forsche.

Bis wann kam das vor, dass Frauen ihre Kinder auf diesem Weg verloren? Wir haben Fälle von den frühen 1970ern bis in die 90er-Jahre hinein gefunden. Vermutlich gab es die schon vorher. Es ist aber allgemein schwierig einzugrenzen, weil es eben keinen einzelnen Paragrafen gab, der dieser Praxis zugrunde lag. Und wo man genau festmachen könnte: dann und dann wurde das Gesetz abgeschafft. Sondern es ging immer darum, was definierten die Gerichte jeweils als „Kindeswohl“.

„Ich dachte damals, bloß die Füße stillhalten. Sonst holen sie dir auch noch das andere weg. Bloß nicht mehr auffallen, nicht sichtbar sein.“

Wie ging so ein Entzug des Sorgerechts genau vonstatten? Das konnte immer dann passieren, wenn der Justiz im Zuge einer Scheidung bekannt wurde, dass die Mutter lesbisch ist. Eine Frau erzählte mir zum Beispiel folgende Geschichte: Sie hatte zwei Kinder. Eines wurde ihr 1981 in Mainz weggenommen, weil das Gericht meinte, es schade dem Kind, bei einer lesbischen Mutter aufzuwachsen. Der Mann war in der Familie immer wieder gewalttätig gewesen, das wurde aber gar nicht erwähnt. Das ältere Kind kam zum Vater, das jüngere durfte, da es noch klein war, vorläufig bei der Mutter bleiben. Ich habe ein Zitat der Frau, das gut wiedergibt, was das für sie bedeutete: „Ich dachte damals, bloß die Füße stillhalten. Sonst holen sie dir auch noch das andere weg. Bloß nicht mehr auffallen, nicht sichtbar sein.“ Das habe ich von vielen lesbischen Frauen gehört: Sie haben versucht, unsichtbar zu bleiben.

Das finde ich einen interessanten Punkt. Es wird ja viel über „lesbische Unsichtbarkeit“ gesprochen. Aber woher die kommen könnte, wird selten gefragt. Ja. Die Unsichtbarkeit, die damals hergestellt wurde, nehmen einige heute als Beleg dafür, dass da nichts zu finden sei. Und es historisch gar nichts aufzuarbeiten gebe.

Was denken Sie: Wie wird man den Betroffenen gerecht? Wir brauchen auf jeden Fall mehr Wissen und öffentliche Diskussion. Wie man den Betroffenen gerecht wird, das möchte ich diese aber gern selbst fragen. Ich hoffe, dass sich viele bei uns mit ihren Geschichten melden werden.

Wie beurteilen Sie die Stellung lesbischer Eltern heute? Wenn ein Kind in eine heterosexuelle Ehe geboren wird, hat es automatisch zwei rechtliche Eltern. Wenn es in eine lesbische Ehe geboren wird, nicht: Damit beide Partnerinnen das Sorgerecht erhalten, muss man eine Stiefkindadoption beantragen. Das ist ein oft langwieriger und teilweise demütigender Prozess. Da sind wir immer noch nicht gleichgestellt. Und es ist leider selten ein gemeinsames Thema der queeren Bewegung.

Zum Weiterlesen:

ZeitzeugInneninterviews auf der Seite der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld: mh-stiftung.de

Regionale Forschungsberichte auf der Seite von Queernet Rheinland-Pfalz: queernet-rlp.de

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