Bewegungsmelder

Was zu tun ist: Eine neue Strategie für die queere Bewegung

9. Juli 2018
Dirk Ludigs © Tanja Schnitzler

Angesichts des Aufstiegs der Rechten braucht die LGBTQ-Bewegung eine neue Strategie. Ein Versuch in möglichst einfachen Worten zu erklären, wie das gehen kann

Vor einem Vierteljahr hat der Nollendorfblogger Johannes Kram ein richtig gutes Buch veröffentlicht. Darin beschreibt er, wie der Hass auf Schwule und Lesben trotz aller Fortschritte selbst in der Mitte der Gesellschaft fortbesteht. Er hat nicht sein Wesen verändert, sondern nur seine Erscheinung. Er ist zu einer „schrecklich netten Homophobie“ geworden.

Johannes und ich kennen uns ganz gut (was in der Berliner Blase häufig vorkommt) und schätzen uns (was in der Berliner Blase nicht immer so häufig vorkommt). Vor kurzem saßen wir auf seinem Balkon und sprachen darüber, dass ein ähnliches Buch über jede gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland geschrieben werden könnte: Hass auf trans* Menschen, auf Frauen, auf Menschen mit anderer Hautfarbe oder anderer Religion.

Worüber wir nicht geredet haben: Über die Armut! Dabei hätten wir da Ähnliches entdecken können. Der Klassenkampf vergangener Jahrhunderte, hier die Arbeiterklasse, da die Kapitalisten, ist ja längst bis in die Mitte der Gesellschaft einer schrecklich netten Unterschichten-Verachtung gewichen. Die Schuld an den Verhältnissen wird denen gegeben, die am meisten unter ihnen leiden. Wenn die Armen nur nicht so ungebildet wären, so faul herum lägen in ihren sozialen Hängematten, dann könnten sie ja auch Abitur machen, studieren, eine Karriere hinlegen und reich werden.

Den Armen ist es tatsächlich schlimmer ergangen als anderen Minderheiten. Denn während klassische Arbeiterparteien wie die SPD sich Themen wie Rassismus oder LGBTQ-Rechten öffneten, unterwarfen sie sich zur gleichen Zeit einer Ideologie, dem Neoliberalismus. Der sieht im Abbau des Sozialstaats einen Fortschritt der Gesellschaft. Alle demokratischen Parteien haben sich seit den Achtzigerjahren daran beteiligt. Selbst die Linke tat das, wenn sie, wie in Berlin, in den Nullerjahren an der Macht war.Das Ergebnis: Heute geht es dem unteren Drittel der Gesellschaft schlechter als in den Siebzigern. Die relative Sicherheit durchs Leben zu kommen, wenn auch auf niedrigem Niveau, ist einer nahezu vollständigen Verunsicherung gewichen.

Die AfD inszeniert sich als Retter

Diese Unsicherheit hat rechten Kräften wie der AfD den Raum geschaffen, in dem ihre Parolen Gehör finden. Die Strategie der Rechten war immer schon, Minderheiten gegeneinander auszuspielen und Hass zu säen. Sind sie dann an der Macht, schaffen sie die Demokratie Stück für Stück ab und setzen auf dem Rücken aller ihre Vorstellungen von einem autoritären Führerstaat in die Tat um. Minderheiten sind ihnen in Wahrheit verhasst. Darum können sie morgens Schwule gegen Muslime ausspielen, mittags Arbeiterinnen gegen LGBTQ aufstacheln und abends die Renten abschaffen. Hauptsache, Zwietracht säen und sich dabei immer selbst als Retter in Szene setzen.

Das funktioniert so gut, weil die meisten Menschen nicht nur Teil einer Minderheit sind, sondern immer gleichzeitig auch Teil einer Mehrheit. Die meisten LGBTQ in Deutschland zum Beispiel sind nicht direkt von Rassismus betroffen. Einfach, weil sie weiße Deutsche sind. Viele, aber natürlich nicht alle, haben gegenüber anderen Minderheiten dieselben Vorurteile wie die Mehrheit. Mitglieder von Minderheiten sind ja keine besseren Menschen.

Wie homophob ist Sahra Wagenknecht?

Am 25. Juni hat die Fraktionschefin der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, einen Artikel veröffentlicht. Darin fordert sie wegen des Aufstiegs rechter Regierungen und Parteien in der westlichen Welt eine neue linke Sammlungsbewegung. Sie stellt die Fortschritte für bestimmte Minderheiten in einen Zusammenhang mit der Tatsache, dass immer mehr Menschen die wirtschaftliche Absicherung genommen wurde. Sie schreibt: „Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz sind das Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten.“ Der Staat gebe „Ehe für alle und sozialen Aufstieg für wenige“.

Mein Freund Johannes und andere schwule Autoren haben Wagenknecht daraufhin vorgeworfen, auch sie würde die einen gegen die anderen ausspielen. Was sie sagt, sei homophob. Johannes hat gute Gründe dafür geliefert und ich will ihm nicht widersprechen. Aber ich finde, er macht es sich trotzdem zu einfach. Denn auf die entscheidende Frage liefert er keine Antwort: Wie können wir verhindern, dass auch in Deutschland die Rechten wieder die Macht übernehmen? Die Macht über die Stammtische und in den sozialen Medien haben sie längst. Die Macht, Debatten in ihrem Sinn zu beeinflussen! Die Macht, die demokratischen Parteien vor sich herzutreiben!

Sahra Wagenknecht zu erklären, warum sie homophobe Sätze schreibt und sonst nichts, das ist die Antwort von gestern auf die Frage von heute. Wenn LGBTQ-Bewegte weiterkommen wollen, müssen sie weiterdenken! In wenigen Jahren ist die freie Welt unfassbar schnell unfassbar klein geworden: Polen, Ungarn, Österreich, Italien, Slowenien und vor allem die USA haben sich autoritäre Regierungen gewählt, die überall die gleiche große rechte Erzählung verkünden: An allem haben die anderen Schuld, nur die reine Nation, in der Minderheiten keine Macht mehr haben und alle sich der Nation unterordnen, löst die Probleme.

Es besser machen: Gar nicht so schwer!


Die große linke Erzählung scheint es dagegen nicht zu geben. Dabei müsste sie lauten: Eine gerechtere Welt schaffen Menschen nur gemeinsam und in Vielfalt! Vielfalt heißt, Unterschiede nicht zu überdecken oder abschaffen zu wollen, sondern lernen, sie auszuhalten. Aushalten lassen sie sich nur, wenn alle sich besser kennen und Respekt füreinander entwickeln. Eigentlich müssten also alle alles immer zusammen denken. Doch wie soll das funktionieren, wenn schon die Mitglieder jeder Minderheit untereinander so unterschiedlich sind? Das macht diese große linke Erzählung so unheimlich schwierig. Darum klingt sie so utopisch und realitätsfremd.

Aber was wäre denn, wenn alle, die sich dem Ziel einer gerechteren Welt verpflichtet fühlen, wenigstens an einer Stelle damit anfingen? Wenn jede Person, die sich für ihre eigene Sache engagiert, sich wenigstens für eine weitere engagiert? Dann hätten alle ihre Anstrengungen bereits verdoppelt.

Das würde auch bedeuten, auf unterschiedliche Entwicklungsstände Rücksicht zu nehmen. Für die einen ist „Intersektionalität“ schon lange tägliches Brot, für andere wäre es schon ein erster Schritt, als schwuler Mann mal eine lesbische Frau zu fragen, was sie bewegt. Oder Geflüchteten zu helfen. Oder bei der örtlichen Suppenküche mitzumachen. Oder sich gegen Rassismus in der Szene zu engagieren.

Hauptsache, es engagieren sich alle nicht mehr nur für ihre eigene Sache allein. So entsteht das große Ganze vielleicht nicht sofort in einem Kopf. Aber es entsteht trotzdem und zwar in einem Netz von vielen Köpfen. Wenn alle sich nacheinander besser kennen und verstehen und akzeptieren lernen, dann kann es sehr schnell vorangehen! Wer Respekt verspürt und Solidarität erlebt, ist nicht mehr anfällig für das Sündenbockspiel der Rechten.

In den USA hat die Wahl von Donald Trump dem Denken in solidarischen Netzwerken in kurzer Zeit einen gewaltigen Schub verpasst. Hunderttausende engagieren sich dort seit das Unfassbare passiert ist. Sie organisieren sich in Graswurzelbewegungen, sie treten zu Wahlen an. In den New Yorker Stadtteilen Bronx und Queens hat eine 28jährige Latina, die vor einem Monat noch niemand kannte, einen mächtigen Vertreter der neoliberalen Ordnung in den Vorwahlen besiegt.

Alexandria Ocasio-Cortez ist eine demokratische Sozialistin, wie Sahra Wagenknecht. Sie streitet für bessere Löhne, für eine Krankenversicherung für alle, für den Klimaschutz und gegen den allgegenwärtigen Rassismus in Amerika. Gleich nach ihrer Wahl sagte sie mit bewegter Stimme: „Ich weiß genau, dass alle Personen hier sich gemeinsam den Arsch aufgerissen haben, um die Zukunft von Queens und der Bronx zu verändern. Dieser Sieg gehört allen, die an der Graswurzel mit organisiert haben, jedem arbeitenden Elternteil, jeder Mutter, jedem Mitglied der LGBTQ-Bewegung! Jede einzelne Person ist dafür mit verantwortlich!“

So klingt es, wenn die linke Erzählung wieder die Herzen gewinnt!

Dirk Ludigs

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