Historie

Kampfansage: Die Geschichte des Berliner CSD

26. Juli 2018 Ronny Matthes
Teilnehmer des ersten Berliner CSD 1979 © Nachlass Vedant Anke-Rixa Hansen

SIEGESSÄULE blickt zurück auf knapp vier Jahrzehnte Berliner Pride-Geschichte und den nicht immer leichten Weg unseres CSDs

Auf dem Keimboden der Studierendenbewegung der 60er wuchs in der Bundesrepublik eine zarte, schöne Pflanze: die Lesben- und Schwulenbewegung. Ihre wichtigste Forderung: die ersatzlose Streichung des Paragrafen 175, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. In der BRD galt er bis 1969 in der verschärften Fassung der Nazis. Die Studierendenproteste waren da bereits abgeflaut, bei den 68ern setzte ein müdes Gefühl der Sattheit ein, die zunächst trägen 70er liefen an.

In der Lesben- und Schwulenbewegung regte sich was, doch erst der zehnte Jahrestag eines Aufstandes auf der anderen Seite des Atlantiks sollte die Homos endgültig aus dem Dornröschenschlaf wecken und der Bewegung neuen Schwung verleihen. Bernd Gaiser, Mitorganisator des ersten Berliner CSDs und Mitglied in der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW), erinnert sich: „Mein Kollege Andreas Pareik war 1979 mit einem Amerikaner zusammen, den er in New York besuchte. Er kam ganz aufgeregt nach Berlin zurück und erzählte, dass dort was ganz Großes im Gange sei: Die bereiten den zehnten Jahrestag des Aufstands im Stonewall Inn vor. Das wollten wir unbedingt auch in Berlin machen.“

Der Stein war ins Rollen geraten, doch viel Zeit blieb nicht. „Uns war bewusst, dass wenn wir das in die Gremien geben – dann kommen wochenlange Diskussionen und wir verpassen den Termin.“ Also setzten sich Bernd und eine Handvoll Mitstreiter kurzerhand zusammen und verfassten einen Demoaufruf unter dem Motto „Gay Pride“, mit dem sie durch die schwul-lesbische Subkultur zogen. „Mach dein Schwulsein öffentlich!“ – so lautete eine der Forderungen des ersten Berliner CSDs, der am 30. Juni 1979 mit etwa 450 Teilnehmenden vom Savignyplatz über den Ku’damm Richtung Halensee zog. Die Lesben traten mit der Forderung „Lesben, erhebt euch, und die Welt erlebt euch!“ an. Dass es im Jahr darauf erneut einen CSD geben würde, wusste noch niemand. „Wir waren erst mal erschöpft von der Organisation dieser einen Demo. In den Jahren darauf fanden sich dann immer spontan Leute, die das organisierten“, so Bernd.

Der Berliner CSD 1979, damals mit circa 450 Teilnehmenden, war eher eine spontane Idee © Nachlass  Vedant Anke-Rixa Hansen

Aids-Krise als Katalysator

Auch im Ostteil der Stadt beobachtete man diese Aktivitäten. „Die öffentlichen Demonstrationen der HAW in Westberlin hatten wir schon mitbekommen“, erinnert sich Peter Rausch, „und wir entwickelten auch Lust auf eine Ostberliner Variante.“ Zusammen mit weiteren GenossInnen gründete Peter 1973 die Homosexuelle Initiative Berlin (HIB), die erste Homo-Organisation der DDR. Einen CSD erlebte Ostberlin vor dem Mauerfall jedoch nicht. „Die Christopher Street, ihr Aufstand und das alljährliche Feiern in den USA waren uns zwar schon bekannt, wir begingen die Tage sogar mit einem Ausflug oder einer Veranstaltung, aber selbstverständlich nicht mit einer Demo.“ Die fand für Peter wie für alle anderen Ossis erst 1990 statt. Dafür mischten sie dann aber kräftig mit.

Doch die Ausgelassenheit und Feierei hatten einen bitteren Beigeschmack – in Westberlin schon seit Anfang der 80er Thema Nummer eins, mit der Wiedervereinigung nun auch im Osten: Aids. „Es fühlte sich an wie Krieg“, erinnert sich Bernd Gaiser. Viele Menschen verloren auf dem Höhepunkt der Aids-Krise im Wochentakt Freunde. „Die teuer erkaufte Professionalisierung der Schwulenbewegung“ nannte Wolfgang Theis, Mitbegründer des Schwulen Museums, die Aids-Krise. Tatsächlich radikalisierte und mobilisierte Aids die Homobewegung, was sich auch in den TeilnehmerInnenzahlen der CSDs niederschlug.

„Ich ging aus Angst vor Aids“, schrieb der schwule Filmemacher Rosa von Praunheim am 29. Juni 1985 in sein Tagebuch. Wie ihm ging es vielen. Sie protestierten gegen das Versagen der Politik im Umgang mit dem Virus. „Die Aids-Krise war ein wichtiger Katalysator für das politische Bewusstsein“, so Bernd Gaiser.

CSD 1984 © Schwules Museum

Reine Männerparade?

Bei allem Engagement gab es auch immer wieder Kritik: Ist der CSD eine reine Männerveranstaltung, eine „Schwulenparade“? Die Fokussierung auf den Paragrafen 175 (ein reines „Männerproblem“) und Aids (auch hier waren mehrheitlich Männer betroffen) gab lesbischen Positionen wenig Raum. Der Lesbische Freundinnenkreis beispielsweise, ein Zusammenschluss von 15 bis 30 Frauen, tritt seit 1987 dafür an, das zu ändern. Noch immer sind Lesben stark unterrepräsentiert. Umso erfreulicher, dass lesbische Sichtbarkeit eines der Schwerpunktthemen des diesjährigen CSDs ist.

Und es ist ja nicht so, als gäbe es keine Meilensteine auf dem Weg zu mehr lesbischer Sichtbarkeit: Schon 1998 hieß es „Mösen in Bewegung“! Da rollte es an der Spitze des CSDs, in flammendem Rot, fünf Meter hoch, laut und lesbisch: das Mösenmobil. Eine Riesenmöse auf Rädern, darauf und daneben Aktivistinnen mit Mösenhüten und Spendendosen, deren Schlitz – man ahnt es – einer Möse nachempfunden war. Die Lesben bildeten damals den Anfang des Umzugs und schafften es, die Aufmerksamkeit mit ihrer Aktion auf sich zu lenken. Egal wen man fragt, alle Teilnehmenden des CSDs 1998 erinnern sich an die rollende Möse. 2007 dann der erste Dyke-Trans-March in Berlin, der seit 2013 als Dyke* March regelmäßig am Tag vor dem CSD stattfindet. Motto: „Für mehr lesbische Sichtbarkeit und Lebensfreude“.

CSD 1998: Das Mösenmobil führte den Zug an und sorgte für jede Menge lesbische Sichtbarkeit © Roland Bergmann

Geburt des alternativen CSD

„Wer schmeißt denn da mit Lehm?“, fragte vor langer Zeit die lesbische Chanteuse Claire Waldoff im gleichnamigen Lied. Auf dem CSD 1997 waren es die Ratten. Aus Protest gegen die Äußerung des Berliner CDU-Politikers Landowsky („Es ist nun einmal so, dass dort, wo Müll ist, Ratten sind, und dass dort, wo Verwahrlosung herrscht, Gesindel ist. Das muss in dieser Stadt beseitigt werden.“) entstand der Rattenwagen, der als letzter Wagen auf dem CSD mitfuhr. Auf ihm wurde im Dreck gewühlt und andere Demoteilnehmende wurden damit beworfen.

Das gefiel nicht allen: Als auch parkende Autos Dreckspritzer abbekamen, wurde der Wagen von der Polizei vom Rest des CSDs abgespalten, und es wurde versucht, ihn zu beschlagnahmen. Auch die CSD-Demoleitung hatte keine Lust auf die Ratten und meldete den hinteren Teil des Umzugs ab. Als spontane Demonstration zog der Rattenwagen mit UnterstützerInnen weiter nach Kreuzberg – die Geburtsstunde des alternativen CSDschlug.

Bild: Christian Vagt
CSD 1997: Der legendäre Rattenwagen wurde mit Polizeigewalt unter Duldung der CSD-Orgas vom Rest des Zuges getrennt. Er fuhr spontan nach Kreuzberg: Die Geburtsstunde des alternativen Transgenialen CSDs © Christian Vagt

Queerer Protest als Wirtschaftsfaktor?

Auch andere Streitpunkte wie die neu eingeführte Wagengebühr, Kommerzialisierung und das politische Profil entzweiten „großen“ und „kleinen“ CSD. Während auf dem großen CSD lange Zeit Politgranden wie Klaus Wowereit willkommene Gäste waren, ist das Engagement politischer Parteien beim alternativen, damals „Transgenialen CSD“, unerwünscht. Was nützt den sozial Schwächeren ein „Ich bin schwul – und das ist auch gut so“, wenn unterm ersten offen schwulen Bürgermeister Berlins Sozialausgaben rigoros gekürzt werden? Die neoliberalen und homonormativen Tendenzen des großen CSDs wurden vom t*CSD radikal kritisiert.

Auch im Umgang mit konkurrierenden Großevents unterschieden sich die CSDs: Regelmäßig sorgen sich die VeranstalterInnen des großen CSDs um ihre Gäste, wenn Fußball-EM oder -WM anstehen. Der CSD e. V. verschob den Umzug kurzerhand dauerhaft in den Juli, niemand solle sich „zwischen Fanmeile und LGBTI-Pflichtprogramm“ entscheiden müssen, heißt es. Dem CSD in Kreuzberg hingegen gingen EM und WM stets am Arsch vorbei: Damenimitatorin und langjährige t*CSD-Mitorganisatorin Inge Borg erinnert sich: „Das war eins der schönsten Erlebnisse damals, der kurze t*CSD vom O-Platz zum Heinrichplatz 2002 unter dem Motto ,Seid furchtbar und mehret euch’. Die Türkei gewann das Viertelfinale und alle feierten gemeinsam auf der O-Straße.“

Bedeutend kleiner als der „große CSD“ kämpfte die Kreuzberger Variante von Anfang an mit Organisationsschwierigkeiten. „Es sind fast immer dieselben Leute und Institutionen, die mitgemacht haben“, gibt Inge Borg zu bedenken. „SO36, SchwuZ, Olfe, Südblock waren fast immer dabei. Und wenn keiner von den ,Großen’ mitmacht, macht das eben kaum jemand anderes.“ Mehrmals sah es so aus, als würde die Veranstaltung scheitern. 2013 fällt das Straßenfest nach der Demo aus, das Orga-Team begründet das mit rassistischen Vorfällen in der queeren Szene; es gäbe nichts zu feiern. 2014, im Jahr des großen CSD-Streits, raffte sich erst kurzfristig ein Team zusammen und organisierte auf den letzten Drücker die Demo. Sein vorläufiges Ende fand der Kreuzberger CSD 2016. Sexuelle Übergriffe und antisemitische Redebeiträge überschatteten die Veranstaltung. „Wir werden keinen CSD mit verhetzenden Inhalten und verletzendem Verhalten mittragen“, hieß es damals aus dem Umfeld der Orgas. In der Folge fand 2017 kein alternativer CSD mehr statt.

Scheiterte der Kreuzberger CSD (vorerst) an zu wenig Struktur, war und ist beim großen CSD das Gegenteil zu beobachten. Nicht nur in Berlin ist er ein straff durchorganisiertes Massenevent, das in den letzten Jahren stets über 500.000 Menschen anzog. Queere Folklore als Tourismusmagnet und Wirtschaftsfaktor? In der Szene wurde immer größerer Unmut laut, zu unpolitisch sei der große CSD, zu kommerziell, ein „schwuler Karneval“.

CSD 2001: Klaus Wowereits Coming-out-Spruch „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“ war in jenem Sommer in aller Munde © Marlon Shute

Der „CSD-Streit“ 2014

2010 bekommt der Berliner Pride es dann von höchster Stelle bestätigt: Oberflächlich und kommerziell nennt Gendertheoretikerin Judith Butler die Veranstaltung. Themen wie Rassismus oder Doppeldiskriminierung würden zu wenig beachtet. Den ihr zugedachten Zivilcourage-Preis, den der CSD jährlich nach undurchsichtigen Kriterien verleiht, lehnt sie zum Entsetzen der VeranstalterInnen ab. Für Ärger sorgt auch das intransparente Geschäftsgebaren der OrganisatorInnen.

Manuela Kay, Mitverlegerin der SIEGESSÄULE, sprach 2007 in einem bissigen Kommentar gar von der „CSD-Mafia“ – viele gaben ihr recht. Denn protzige Abschlussshows mit fragwürdigen Musikbeiträgen, Großkonzernsponsorings, endlos viele Saufstände und Würstchenbuden und selbstherrlich agierende Vereinsfunktionäre ließen Zweifel an den edlen Motiven der CSD-Orgas aufkommen. „Das ganze CSD-Getue ist ein Bluff von in die Jahre gekommenen schwulen Männern, die nirgends sonst in der ,echten’ Geschäftswelt etwas erreichen konnten“, stichelte Kay.

2014 dann der Eklat: In Berlin gelangte Robert Kastl zu trauriger Berühmtheit. Dem Geschäftsführer des CSD e. V. – des Vereins, der seit 1999 den Berliner CSD organisiert – wurde vorgeworfen, sich nicht nur finanziell an der Durchführung der Parade zu bereichern (ein Vorwurf, von dem ihn eine Transparenzkommission letztlich entlastete), sondern auch nach Gutsherrenart über die Geschicke des CSDs zu entscheiden. So wollte Kastl die Umbenennung des CSDs in „Stonewall“, samt Eintragung als Marke. Community und Parteien waren schockiert: Auf dem CSD-Forum eskalierte der Streit, man wollte die eigenmächtige Umdefinierung des CSDs nicht einfach hinnehmen.

„Das CSD-Forum ist eine ziemlich diverse Crowd, denn das Forum ist offen für alle“, erklärt Angela Schmerfeld vom CSD e. V. Hier wird basisdemokratisch über Mottos und Forderungen der CSDs entschieden. Ein „Aktionsbündnis CSD Berlin 2014“, an dem viele aus dem Forum mitwirkten, veranstaltete nun eine eigene Demo – sodass es 2014 drei Demos gab, zwei in Mitte und eine in Kreuzberg (Stargast dort: der frisch geoutete Ex-Fußballprofi Hitzlsperger). Wenn man „Community“ mit „Gemeinschaft“ übersetzt, so lag die Betonung in jenem Jahr auf „gemein“. So zersplittert zeigte sich die Bewegung lange nicht. Eins war klar: Ein Neuanfang musste her.

„Wir haben seit Ende 2014 diverse runde Tische mit unterschiedlichen Gruppen abgehalten und viele Gespräche geführt, um die Community in größtmöglicher Breite wieder einzubinden“, sagt Angela Schmerfeld. Die Veranstalterin der CSD-Lesbenparty „Liquid“ war von 2014 bis 2016 im Vorstand des Vereins und kümmert sich heute um Sponsoring und Kooperationen. Ein neuer Vorstand trat an, um den CSD e. V. zu reformieren – und deckte ein gewaltiges Finanzproblem auf, entstanden vor allem durch die Misswirtschaft der vergangenen Jahre unter Kastl.

„Wer sich selbst zu ernst nimmt, wird intolerant“

Heute weht ein frischer Wind durch den Verein, Transparenz wird großgeschrieben. Auch am Demokonzept wurde gefeilt: „Früher gingen die Fußgruppen zwischen den lauten Trucks unter. Dadurch entstand der Eindruck, es gehe hier nur noch um Kommerz und um die ,Großen’“, so Angela. Darum wurde die Struktur der Demo verändert: im ersten Block eine Laufdemo, im zweiten erst die Trucks. Auch CSD-Urgestein Bernd Gaiser gefällt diese neue Ordnung, sie erinnert ihn an die Demos von früher. Und tatsächlich hat sich die Zahl der Schilder und der Marching Groups merklich erhöht.

Vieles, was auf der homopolitischen Agenda stand, ist erreicht: Der Paragraf 175 ist lange Geschichte, die Aids-Prävention macht große Fortschritte (Stichwort: PrEP) und Hochzeit und Scheidung stehen seit 2017 auch Schwulen und Lesben offen. Was wünscht man dieser Veranstaltung in den besten Jahren? Peter Rausch hofft, dass sich ein Trend fortsetzt: „Seit drei Jahren zeigen sich vorn an der Spitze des Zuges die bisexuellen Männer und Frauen und jedes Jahr werden es mehr“, freut er sich. „Ich hoffe, dass bald jeder am Straßenrand erkennt, was die für eine mächtige Landmasse auf dieser Erde sind.“

Angela Schmerfeld wünscht sich einen unverkrampfteren Umgang der Szene miteinander: „Humor wirkt befreiend, und ohne Spaß, Ironie und Galgenhumor wäre die Welt doch ziemlich arm. Wer sich selbst zu ernst nimmt, wird intolerant. Wir sollten jede Gelegenheit zum Lachen nutzen – auch über uns selbst.“ Denn nach wie vor gilt, was Claire Waldoff schon zu Weimarer Zeiten sang: „Die Menschen heutzutage sind alle so nervös./ Über jede kleine Kleinigkeit da werden sie giftig bös’./Schimpft einer auf den andern,/Dann sing ich voll Humor,/Damit er nicht mehr schimpfen soll,/Mein kleines Liedchen vor:/Wer schmeißt denn da mit Lehm,/Der sollte sich was schäm’!/Der sollte auch was anders nehm’/Als ausgerechnet Lehm.“

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