Debatte um Homophobie bei den Linken

Ist die Ehe für alle nur ein „Wohlfühllabel“? Sahra Wagenknecht im Interview

30. Sept. 2018
Sahra Wagenknecht © Trialon Berlin

Wir befragten Sahra Wagenknecht zu ihren in der Community heftig debattierten Äußerungen zur Ehe für alle und wollten wissen, warum sie sich sonst zu queerpolitischen Themen ausschweigt

Vor einigen Monaten löste Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht eine Debatte in der Community aus: In ihrem Gastbeitrag in der Welt „Warum wir eine neue Sammlungsbewegung brauchen“ bezeichnete sie die Ehe für alle als „Wohlfühllabel“. Dem Beitrag war in verschiedenen Medien vorgeworfen worden, dass damit Homophobie geschürt und legitimiert werden würde. Auch der LSVD hatte sich in einem Offenen Brief an Sahra Wagenknecht gewendet, in dem die Sorge zum Ausdruck kam, dass ein unbedingtes Bekenntnis zu Menschenrechten auch von sich als links verstehenden Politiken jederzeit aufkündbar sei. Diese Woche hatten wir die Möglichkeit mit Sahra Wagenknecht zu sprechen und sie zu ihren Äußerungen zur Ehe für alle zu befragen

Frau Wagenknecht, die Sammlungsbewegung Aufstehen hat in wenigen Monaten 100.000 UnterstützerInnen mobilisiert. Sie haben in diversen Zeitungen dazu Gastbeiträge veröffentlicht, unter anderem Ende Juni in der Welt. An einer Passage entzündete sich eine Debatte um Homophobie. Es gab von vielen Seiten Kritik an Ihren Äußerungen. Der LSVD zeigte sich „erschreckt“, ihr Parteikollege Klaus Lederer sagte im SIEGESSÄULE-Interview , bei Ihrem Beitrag handele es sich um „schrecklich nette Homophobie".
Homophobie ist nie nett und liegt mir fern. Es geht in dem Artikel um die unheilige Allianz zwischen Neoliberalismus und Linksliberalismus. Der Neoliberalismus führt nicht zu Gleichstellung und Toleranz, sondern zu wachsender Ungleichheit und sozialer Verunsicherung. Treten linksliberale Positionen im Bündnis mit neoliberalen auf, wird dieser Policy Mix von vielen als Einheit wahrgenommen, und genau das untergräbt die Akzeptanz für linksliberale Forderungen wie die Ehe für alle.

Unter anderem nannten Sie die Ehe für alle ein „Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten“. Die Ehe für alle ist eine Errungenschaft und ein Fortschritt. Das steht auch in dem Artikel. Das ändert aber nichts daran, dass solche Fortschritte seitens der Regierungsparteien genutzt werden, um eine sozial fatale Politik zu kaschieren und sich ein progressives Image zu geben, obwohl man einem rüden Wirtschaftsliberalismus frönt, der eigentlich eher ins 19. Jahrhundert gehört als in eine moderne Gesellschaft. Es gab in der letzten Legislatur vier Jahre lang eine rot-rot-grüne Mehrheit. Sie wurde genau einmal genutzt, für die Ehe für alle. Nie für soziale Verbesserungen. Das frustriert die Menschen, die unter schlechten Lebensbedingungen leiden, und verschafft rechter Hetze gegen Homosexuelle einen Resonanzboden.

Nun geht es ja niemandem schlechter, weil Schwule und Lesben rechtlich gleichgestellt werden. Wie schadet das der Toleranz? Wenn Menschen das Gefühl bekommen, die Interessen einer bestimmten Gruppe werden von der Politik ernster genommen als ihre sozialen Interessen, dann fühlen sie sich zurückgesetzt und oft richtet sich die Wut dann eben nicht nur, wie es ja berechtigt ist, gegen die Politik, sondern auch gegen die vermeintlich bevorzugte Gruppe.
Die amerikanische Feministin Nancy Fraser hat den Begriff „progressiver Neoliberalismus“ geprägt. Er beschreibt Politiker, die die sozialen Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten mit Füßen treten und den Sozialstaat zerstören, zugleich aber für progressive liberale Forderungen eintreten – in den USA ist Hillary Clinton ein Beispiel dafür. Sie verkörpert einerseits eine korrupte, von der Wall Street gekaufte Politikerin, der das Schicksal der Ärmeren gleichgültig ist, damit natürlich auch das Schicksal der armen Homosexuellen oder der armen Latinos und Farbigen in den USA. Andererseits gibt sie sich als Vorkämpferin von Gleichstellung und Antidiskriminierung. Diese Kombination hat Trump mit seinen rassistischen Ausfällen und seiner zur Schau gestellten political incorrectness zu einem für viele attraktiven Gegenmodell gemacht. Wer die Trumps dieser Welt nicht stärken will, darf kein Bündnis mit dem Neoliberalismus eingehen, der die sozialen Voraussetzungen einer offenen, toleranten Gesellschaft zerstört. Darum geht es mir. Homosexuelle sind genauso von Hartz 4, Niedriglöhnen und Altersarmut betroffen wie alle anderen auch. Auch für sie hat sich die Ungleichheit vergrößert. Wem an Gleichstellung gelegen ist, der kann keine Politik stützen, die die sozialökonomischen Voraussetzungen echter Chancengleichheit zerstört.

Wen adressieren Sie jetzt genau? Zum Beispiel die Grünen, die sich mittlerweile ja bevorzugt als Merkels letzte Machtreserve sehen. Sehen Sie, die Konfliktlinie wird ja oft so gezeichnet: hier die Vertreter einer offenen Gesellschaft, die für Toleranz und Minderheitenrechte stehen, dort alle diejenigen, für die andere Fragen im Vordergrund stehen. Das ist eine völlig falsche Trennlinie. Man muss die soziale Frage in den Mittelpunkt stellen, gerade wenn man eine offene, tolerante Gesellschaft verteidigen will.

Ist das der Grund, warum Sie sich so selten zu queerpolitischen Themen äußern? Man äußert sich ja meist zu den Dingen, zu denen man in Interviews gefragt wird. Ich halte gleiche Rechte für alle und Schutz vor Diskriminierung für einen elementaren Bestandteil jeder freien Gesellschaft. Das darf man nur nicht trennen vom Kampf gegen die ökonomischen Ursachen von Diskriminierung. Das ist für mich die Grundlage emanzipatorischer Politik. Ich halte es für Heuchelei, eine tolerante Gesellschaft zu begrüßen und zugleich die soziale Spaltung zu vertiefen. Darum ist die soziale Frage der Dreh- und Angelpunkt.

Über andere Themen reden Sie aber auch ganz gern, zum Beispiel über Russland. Warum nutzen Sie diese Gelegenheiten nicht, um zum Beispiel das Homopropaganda-Gesetz zu kritisieren oder die Verfolgung von Schwulen in Tschetschenien? Zu diesen Themen hört man von ihnen nichts. Ich habe mich auch dazu schon geäußert. Ich finde vieles an der russischen Innenpolitik problematisch. Aber als deutscher Politiker sollte man sich sparsam in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einmischen. Ich habe zu den genannten Themen eine klare Haltung, Russland hat sicher keine Ordnung, die dem entspricht, was wir unter einer freiheitlichen Demokratie verstehen. Aber das ist letztlich Sache der Russen, welche Regierung sie wählen und in welcher Ordnung sie leben wollen. Völlig unabhängig davon ist es in unserem Interesse, aus der aktuellen Konfrontations- und Aufrüstungsspirale herauszukommen und gute, stabile Beziehungen zu Russland wiederherzustellen. Konfrontation nützt niemandem und ist militärisch ein Spiel mit dem Feuer.

Interview: Ronny Matthes

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