Film

Der Körper, dein Feind: Trans*drama „Girl“ im Kino

16. Okt. 2018
Lara (Victor Polster) unter der Dusche nach dem Tanztraining © Menuet

Tanzen ist für Lara alles. Um auf eine renommierte Ballettschule gehen zu können, zieht die 15-Jährige mit ihrer Familie – dem alleinerziehenden Vater und dem kleinen Bruder – nach Brüssel. Die Konkurrenz dort ist gewaltig; das Training belastet den Körper oft bis über die Schmerzgrenze hinaus. Doch Lukas Dhonts Langfilmdebüt „Girl“ ist mehr als ein Film über die Anfänge einer Tanzkarriere und die Opfer, die eine Jugendliche dafür bringen muss. Parallel erzählt er eine weitere Geschichte rund um Willensstärke und körperliche Transformation: Lara ist transweiblich; seit einer Weile nimmt sie Pubertätshemmer und zählt die Tage bis zur Hormonbehandlung.

Von Anfang an nehmen wir Lara als Mädchen wahr; ihre Familie und ihr Umfeld akzeptieren sie so, wie sie ist – eine erfrischende Abwechslung zu den üblichen Coming-out-Geschichten. Vielmehr konzentriert sich Dhont auf die inneren Kämpfe seiner Hauptfigur. Typisch Teenie, spricht Lara nicht viel. Die Kamera jedoch fängt jedes Detail ihrer Mimik und Gestik ein, bleibt auch beim Tanzen ganz nah an ihr dran und wirbelt die ZuschauerInnen mit durch den Saal. Unmittelbar spüren wir Laras Freude, ihren Ehrgeiz, aber auch ihren Schmerz, der in aller körperlicher Drastik gezeigt wird: das Abkleben der Genitalien, das die Haut gerötet zurücklässt, ebenso wie ihre zerquetschten, blutigen Zehen nach stundenlangem Spitzentanz.

Diese visuelle Nähe schafft Empathie, ist jedoch nicht ganz unproblematisch, weil hier – wieder einmal – das Leiden einer trans* Person am eigenen Körper in den Vordergrund gerückt wird. In langen Einstellungen betrachtet sich Lara im Spiegel, betastet ihre viel zu langsam wachsenden Brüste und fiebert der geschlechtsangleichenden OP entgegen.

In gewisser Weise gibt die Tanz-Thematik den Fokus auf den Körper vor. Dennoch kann man sich fragen, warum gerade das trans* Narrativ des „Gefangenseins im falschen Körper“ wieder und wieder bedient werden muss. Zumal es das ohnehin im Mainstream verankerte Bild festigt, dass sich eine Frau nur mit Brüsten und Vagina „ganz“ fühlt.

Auch dürfte die Entscheidung, die Rolle der Lara mit einem cis-männlichen Darsteller zu besetzen, dem Regisseur nicht unbedingt die Sympathien der Trans*-Community einbringen. Zwar spielt Newcomer Victor Polster das gesamte Spektrum vom verstockten Teenie über die liebevolle große Schwester bis hin zur disziplinierten Tänzerin beeindruckend nuancenreich. Trotzdem hätte man sich hier andere Prioritäten gewünscht – z. B. ein offeneres Casting mit dem Ziel, eine transfeminine Schauspielerin zu finden und dafür vielleicht auf eine andere eher weiblich konnotierte Sportart auszuweichen.

Berührend ist „Girl“ immer da, wo er ohne große Worte die Dynamik zwischen seinen Figuren auslotet und dabei immer wieder auch gesellschaftliche Erwartungen ins Spiel bringt, die Laras Hadern mit dem eigenen Körper noch einmal in ein anderes Licht rücken. Da ist die naive Grausamkeit ihrer Mitschülerinnen, die Lara zwar einbeziehen in ihre „mädchenspezifischen“ Aktivitäten, sich in heiklen Momenten dann aber doch wieder auf alles stürzen, was von der Norm abweicht. Oder Laras Anbandeln mit dem Nachbarsjungen, das eher wie ein halbherziger Versuch wirkt, einem Bild von Heterosexualität zu entsprechen, das von allen Seiten an sie herangetragen wird.

„Ich will kein Vorbild sein“, antwortet sie einmal ihrem Vater, als der sie für ihren Mut lobt. „Ich will nur ein Mädchen sein.“ Jetzt bräuchte es nur noch einen Film, der diesen starken Worten auch Rechnung trägt.

Anja Kümmel

Girl, B/NL 2018,
Regie: Lukas Dhont,
mit Victor Polster,
Arieh Worthalter,
ab 18.10. im Kino


Das Siegessäule Logo
Das Branchenbuch mit Haltung
Queer. Divers. Überzeugend.