Queere Geschichte

Zeitzeugin über lesbisches Leben in Berlin: „Ich dachte, ich würde einsam sterben“

11. Dez. 2018
Bild: Hassan
„Plötzlich so viele lesbische Frauen!“ – Joanna Czapska hat schon in den 1980ern bei der Lesbenberatung Berlin gearbeitet © Hassan

Die Veranstaltungsreihe „Ein anderer Blick – lesbische
Lebenswelten in Berlin“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, lesbische Geschichtsschreibung voranzutreiben. Unter anderem die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld lud dafür ab November drei Zeitzeuginnen unterschiedlichen Alters ein, aus ihrem Leben zu erzählen.

Den Abschluß der Reihe macht am 13. Dezember Joanna Czapska. 1955 in Warschau auf die Welt gekommen und später nach Westberlin emigriert, hat sie vieles, was die LGBTI-Szene über die Jahre bewegte, am eigenen Leib erlebt.

Joanna, wie fing das damals an bei dir mit der lesbischen Selbstfindung? Ich habe sehr schnell gemerkt, dass ich mich zu Mädchen beziehungsweise Frauen hingezogen fühle. Lange Zeit habe ich aber mit der Überzeugung gelebt, ich sei krank und meine sexuelle Orientierung nicht akzeptabel. Ich dachte, ich würde einsam sterben. Der Kontakt mit feministischen Gruppen aus Deutschland hat mir da sehr geholfen.

Du hattest schon früh Bezug zu Deutschland und feministischen Gruppen hier. Wie kam es dazu? Angefangen hat es damit, dass ich kurz vor dem Abitur in meine Deutschlehrerin verliebt war (lacht). Als ich mich entscheiden sollte, was ich nach der Schule machen möchte, wählte ich aufgrund der grenzenlosen Liebe zu meiner Deutschlehrerin Germanistik als Studiengang. Über das Germanistikstudium kam ich in Kontakt mit einem studentischen Reisebüro in Warschau, das deutschsprachige Reisegruppen durch Polen führte. Darunter gab es auch Gruppen von der Organisation Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Ich fand es wichtig, die im Rahmen dieses Programmes freiwillig arbeitenden Menschen aus Deutschland bei den Besuchen der Mahn- und Gedenkstätten zu begleiten. Das war Mitte der 70er-Jahre. Durch die Frauen aus diesen Gruppen kam ich in Berührung mit deutschen Lesben und Feministinnen und der Berliner Frauenzeitung Courage. Dass ich Deutsch lesen konnte, war auch enorm wichtig für mich, denn meine erste lesbische Literatur las ich in deutscher Sprache.

Hattest du schon Kontakte zu feministischen Gruppen, als du während des Studiums ein Jahr lang in Ostberlin gelebt hast? Nein, da hatte ich gar keinen Kontakt zur Szene. Ich war zwar in eine Kommilitonin aus Polen verliebt, aber verdeckt und sehr unglücklich. Auch in Warschau hatte ich nur gehört, es gäbe Lokale, in denen sich Männer treffen würden. Homosexualität war mehr so eine Halbwelt mit Prostitution. In meinen jungen Jahren hatte ich davor Angst und hätte mich nie dorthin getraut.

Später, 1981, bist du nach Westberlin gezogen und hast eine Stelle in der Lesbenberatung gefunden. Da war ich plötzlich mittendrin in den lesbischen Zusammenhängen. Wir sind auch viel zusammen ausgegangen, das war toll. Dort waren so viele lesbische Frauen! Wir haben andere beraten, wir konnten agieren. Ich war happy, weil das für mich so eine befreiende Situation war. Endlich offen zu bejahen, was ich war.

Damals war die Lesbenberatung noch ein Verein mit der Schwulenberatung. Wie hat das funktioniert? Es gab viele Auseinandersetzungen, aber auch Unterstützung von beiden Seiten. Als wir in die Kulmer Straße eingezogen sind, haben wir die Räume ganz paritätisch in Männer- und Frauenbereich neben dem allgemeinen Bereich geteilt. In der psychosozialen Arbeit und in den Gruppen waren die lesbischen Frauen und die schwulen Männer unter sich. Aber in der politischen Arbeit und in der Aufklärungsarbeit haben wir viel gemeinsam gemacht, mit Schulklassen und MultiplikatorInnen. Das war meiner Meinung nach schon ein sehr schönes Bündnis.

Und die Auseinandersetzungen? Na ja, worum sich die Auseinandersetzungen zwischen Lesben und Schwulen eben drehen: Geld und die Frage, wer was entscheidet und wie wir das aufteilen. Diese Diskrepanz gab es immer. Heute kommt noch hinzu, dass der Sozialstaat schwächer ist und Berlin immer kapitalistischer wird. Das verstärkt das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen und das Klima wird härter. Auch wegen äußerer Umstände. Die soziale Verantwortung für Frauen, Lesben und viele weitere benachteiligte Gruppen wird nicht von der Öffentlichkeit getragen.

Du bist später aus Lesbenzusammenhängen ausgestiegen. Hattest du keine Lust mehr auf die Szene? Nein, das hatte andere Gründe. Mein Aufenthaltsstatus war damals sehr unsicher und ich wollte gerne außerhalb der Szene auch als Migrantin aktiv werden. Dadurch habe ich einen neuen Schwerpunkt in der Migrationsarbeit gefunden. Auch in diesem Job bin ich natürlich sehr offen mit meinem Lesbischsein umgegangen. Den ersten Jahren bei der Lesbenberatung verdanke ich mein klares Selbstverständnis, wie und mit wem ich lebe. Dadurch war es auch leichter, in den anderen Arbeitszusammenhängen damit umzugehen. Schon im Vorstellungsgespräch, in einer großen Teamrunde zum Beispiel, war klar, dass ich lesbisch bin, denn in meinem Lebenslauf stand ja, dass ich bei der Lesben- und Schwulenberatung gearbeitet hatte. Ich war dem gegenüber durch meine Zeit in der Lesbenberatung einfach sehr gefestigt. Da hat meine Generation in Berlin im Vergleich zu den Älteren schon ein ganz großes Glück gehabt.

Und wie nimmst du lesbisches Leben in Berlin heute wahr? Ich bedaure es sehr, dass die Begine das einzige Frauenlokal in der Stadt ist und finde es schlimm, dass die Einrichtungen und Projekte eingegangen sind, die ich damals kennengelernt habe. In der wirtschaftlichen Berechnung können sich diese Lokale nicht halten. Frauen sind nicht die Zielgruppe, die wahnsinnig viel Geld hineintragen kann. Das kann nur dadurch beseitigt werden, wenn wir die finanzielle Diskriminierung von Frauen abschaffen. Solange das nicht der Fall ist, wird das immer so bleiben.

Wie erlebst du die Entwicklung hin zur Bezeichnung „queer", die viele jüngere Leute heute verwenden? Einerseits finde ich toll, dass wir zusammen LSBTI sind, aber in Bezug auf meine Identität finde ich das auch schade. In dem Moment, wo die Geschlechterbinarität aufgehoben wird, kann ich mich doch nicht mehr als Lesbe definieren. Damit wird meine Identität infrage gestellt. Aber so war das auch damals. Da nannten sich die lesbischen Frauen noch homosexuelle oder sogar schwule Frauen. Das würde heute kein Mensch mehr sagen. Diese Entwicklung der Begrifflichkeiten ist eine spannende Geschichte, aber keine einfache. Das erfordert eine Kommunikation über die Generationen hinaus. Da sind wir wieder bei den Zeitzeuginnen. Wer weiß schon, wohin die Entwicklung geht?

Du bist die Jüngste der drei geladenen Zeitzeuginnen. Wie wird man eigentlich Zeitzeugin? Gibt es da ein Mindestalter? (Lacht). Zeitzeugin ist ein Wort, das ich bis vor Kurzem gar nicht mit mir in Verbindung gebracht habe. Und plötzlich werde ich selbst eine! Das hat sicherlich mit Alter zu tun, denn ich kann einen Zeitabschnitt bezeugen, der vielen Frauen in der Gegenwart nicht mehr bekannt oder präsent ist. Es ist irre, wenn ich heute jungen Frauen begegne, die noch gar nicht auf der Welt waren, als ich in Berlin ankam. Mit meiner Erzählung möchte ich Interesse wecken und Verständnis erzeugen: Warum waren wir so, wie wir waren, und wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?

Interview: Clara Woopen

SIEGESSÄULE präsentiert: „Ein anderer Blick. Lesbische Lebenswelten in Berlin“, 13.12., Sharehaus Refugio, Lenaustr. 3-4, 19:00. Mit: Joanna Czapska, moderiert von SIEGESSÄULE-Verlegerin Gudrun Fertig

Eintritt frei, Anmeldung erwünscht unter: veranstaltungen@mh-stiftung.de

mh-stiftung.de

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