Szene

Nicht anfassen? Zum Umgang mit Körpergrenzen in der Community

19. Nov. 2018
© John Michael Hoppen

Unser größtes und vielseitigstes „Organ“ ist die Haut. Mit rund 640.000 Tastrezeptoren versehen, fungiert sie als eine umfassende Kommunikationsfläche. Außerdem dient sie, ganz banal gesagt, zur Abgrenzung von außen und innen. Bei einem durchschnittlich großen Erwachsenen ist diese natürliche Hülle, je nach Körperstelle, zwischen 1,5 und 6 mm dick. Ihre Gesamtoberfläche wiegt bis zu 14 kg. Wir Menschen können allerdings ziemlich dünnhäutig sein, wenn ein Ungebetener uns auf die Pelle rückt. Wer von uns hat das nicht schon mal am eigenen Leibe erfahren? Jeder von uns ist ein Homo hapticus, aber was für die einen ein angenehmes Zugreifen ist, kann für andere schon ein gewaltvoller Übergriff sein.

Taktile Anreize und territoriale Ansprüche: darum geht es im Folgenden. Gibt es etwa geschlechtsspezifische Körpergrenzen? Während vielleicht ein schwuler cis Mann kein Problem damit hat, wenn ihm ein anderer schwuler Mann (zu) nahe kommt, stellt die gleiche Situation für eine lesbische cis Frau oder eine trans* Person vielleicht ein Problem dar. Welche Faktoren spielen eine Rolle bei der Frage, welche körperliche Annäherung o. k. ist und welche eindeutig eine Grenze überschreitet? Im engeren Sinne: wie nahe dürfen wir einander in der LGBTI-Community kommen?

Nur zu mimosenhaft reagiert?

„Hab's nicht böse gemeint!“, beteuerte der Bargast, der nicht mit einer Ohrfeige gerechnet hatte: Er errötete schlagartig, vor allem an seiner linken Kinnbacke entlang. Der mutmaßliche Grapscher mimte nun den missverstandenen Grenzgänger. So fauchte ich ihn im Brustton tiefster Überzeugung an: „Für dich sind Silikon-Valley und die Po-Ebene Sperrgebiete! Und im Bermuda-Dreieck gehst du verloren!“ Zeugen amüsierten sich. Zum Lachen war mir aber gar nicht zumute.

„Ich wollte dir nur einen Wein spendieren“, rechtfertigte sich der Mann entsetzt, ehe er über sein verschüttetes Getränk jammerte. Doch er zog ohne weitere Annäherungsversuche ab. Alsbald beschlich mich eine Art Reue. In brenzligeren Situationen im öffentlichen Raum behalte ich mir das Recht vor, notfalls die Ellenbogen auszufahren, so sehr ich die gewaltfreie Deeskalation auch bevorzuge. Diesmal allerdings stand ich an der Theke einer Regenbogenkneipe, wo Queers aller Couleur unter sich weilten. Hätte ich den Fauxpas souveräner kontern können? Der Kerl war schließlich irgendwie einer von uns. Als trans Frau of Color übermannte mich das Gefühl, zu militant und gleichzeitig zu mimosenhaft reagiert zu haben.

Dieses Beispiel zeigt, wie komplex es werden kann, wenn man sein gutes Recht auf das Ziehen der eigenen Körpergrenzen in Anspruch nimmt, denn diese Grenzen sind das Ergebnis komplexer gesellschaftlicher, sozialer und biografischer Fragen.

Dennoch können ein paar allgemeingültige Dinge beachtet werden, die zu einem besseren sozialen Miteinander beitragen. Wenn es sich um Berührungen im Kontext von Begehren handelt, sollte vorab schon mal eines klar sein: Wer Sex im Sinne hat, sollte das richtige Gespür für das Gegenüber mitbringen. Selbst wenn das umstrittene „Gaydar“ richtig funktioniert, nutzt diese Fähigkeit wenig, wenn bei der Kontaktanbahnung persönliche Grenzen unerwünscht überschritten werden. Das gilt quer durch die Gesellschaft. Aber auch quer durch die queere Gesellschaft? Ist so etwas wie ein allgemeingültiger Flirt-Knigge für Queers überhaupt möglich? Die LGBTQAI-Community, die sich immer wieder um einen neuen Buchstaben erweitert, umfasst die unterschiedlichsten geschlechtlichen bzw. sexuellen Identitätsgruppen, deren Gemeinsamkeit teils nur darin besteht, sich der Heteronormativität nicht zu beugen. Das ist also ein weites Feld.

Was können wir von der BDSM-Szene lernen?

Deutlich liegen die Karten beispielsweise in der BDSM-Szene auf dem Tisch: Es gibt einen eigenen, konsequent eingehaltenen Verhaltenskodex, Faustregeln, die für Klarheit und Sicherheit sorgen. Mit Safewords respektive Slowwords kann eine Interaktion, egal ob unter Fremden oder Vertrauten, beliebig abgebrochen oder gebremst werden. Diese Wörter werden ohne Wenn und Aber respektiert. Von der BDSM-Community können wir also Konstruktives über den richtigen Umgang mit anderen Menschen und deren Körpern lernen: Die körperlichen Grenzen des Gegenübers erfahren wir, indem wir sie offen verhandeln, anstatt einfach loszulegen.

Dass ein „Nein“ – quasi das gesamtgesellschaftliche Safeword – in der „Sadomaso“-Szene in der Regel respektiert wird, sollte aufhorchen lassen. Außerdem sind gewisse Vorkenntnisse – zum Beispiel zum jeweiligen Setting, in dem man sich bewegt – von Vorteil. Bestimmte Räume haben Einfluss auf die dort üblichen Körpergrenzen. Jemand, der sich in den Darkroom hineintastet, sollte sich nicht wundern, wenn er dort im lichtscheuen Labyrinth ungefragt von anonymer Hand befummelt wird. Und wenn einer ein Glory Hole mit einem Guckloch verwech- selt, kann die Angelegenheit schnell ins Auge gehen.

Verschiedene Erfahrungen heißt auch: verschiedene Grenzen

In einigen Teilen der Regenbogen-Community sind die Grenzen zwischen dem, was akzeptabel ist, und dem, was zu weit geht, allerdings fließend bzw. durchlässig. Das kann verführerisch aber auch irreführend sein. Unter homosexuellen cis Männern ist ein unaufgeforderter Griff ans Gesäß zum Beispiel oft kein Drama, während das Gleiche in anderen Zusammenhängen und mit anderen Beteiligten schnell nach hinten losgehen kann. Fakt ist: Menschen aus verschiedenen queeren Communitys haben unterschiedliche Körpergrenzen, die auf ihre jeweiligen Erfahrungen in der heteronormativen, patriarchalen Matrix zurückzuführen sind.

Ein schwuler Mann ist trotz seiner Homosexualität Profiteur eines Systems, das männliche Sexualität subventioniert, und hat dementsprechend weit weniger Berührungsängste als cis Frauen oder trans* Personen. Auch schwule cis Männer wurden in der von maskulinen Herrschaftsstrukturen dominierten Gesellschaft indoktriniert und haben davon zumindest teilweise profitiert.

Frauen* dagegen werden angesichts ihres traditionell niedrigen Stellenwerts im Patriarchat häufiger sexualisiert oder sexuell belästigt. So empfinden sie eine freizügige Berührung oft nicht als Ausdruck ihrer eigenen Freiheit, sondern als eine potenziell bedrohliche Bestätigung ihrer Anfälligkeit. Frauen gelten als „schwach“ und ihre Körper werden als verfügbare Projektionsflächen angesehen.

Davor sind auch Lesben nicht gefeit. Wenn lesbische Frauen Opfer sexueller Übergriffe durch Männer werden, mischt sich häufig in den üblichen Machismo noch der üble Beigeschmack der Rache: Denn eine Frau, die sich erdreistet, Frauen zu lieben, gilt in diesem Paradigma als bestrafungswürdige Abtrünnige oder besonders verführerische Herausforderung. Die perfide Annahme, die viele lesbische Frauen aus doofen Sprüchen oder physisch gewaltvollen Zusammenhängen kennen: durch heterosexuellen Kontakt könnten sie „bekehrt“ werden. Der ungefragte Griff des Mannes an den Körper der Frau wird hier also zum Ausdruck eines Machtgefälles innerhalb des Patriarchats. So wundert es nicht, dass Frauen* ein unverlangtes Anfassen eher unangenehm oder gar abstoßend finden.

„Kerle in Weiberklamotten... warum soll man die nicht anfassen dürfen?“  

Von trans* Personen wird erwartet, dass sie sogar Etliches mehr über sich ergehen lassen. Das reicht von unangebrachten Fragen nach der physischen Beschaffenheit und sexuellen Funktionsweisen bis hin zum Griff zwischen die Beine, um sich frech über den Stand der körperlichen Transition zu informieren.

Trans Frauen werden zudem häufig als Sexarbeitende betrachtet und ebenso wie Dragqueens übersexualisiert. Der heterosexuelle, cis-männliche Blick ist meist ignorant und der angenommene „Mann“ in der „Hülle“ einer „Frau“ erntet in der heteronormativen Matrix am wenigsten Respekt. Denn die „Femininisierung“ eines „männlichen“ Körpers wird generell als Entwertung begriffen – eine Tatsache, die viel über den Stellenwert der Frau innerhalb der Gesellschaft verrät. „Kerle, die in Weiberklamotten und mit Fake-Titten herumlaufen“ – warum soll man die nicht anfassen dürfen? Sind die Brüste echt? Viele kennen diese Situation.

Auch inter* Menschen, die in ihrer Kindheit oft medizinisch unnötige Operationen ertragen mussten, um dem binären Modell sexueller Identität zu entsprechen, erleben ähnliche Grenzverletzungen durch ignorante, distanzlose Schaulustige.

Grenzen setzen – aber wie?

Wie geht man mit solchen Situationen um? Wie verschafft man seinen Körpergrenzen den nötigen Respekt, und wie verarbeitet man, wenn sie überschritten werden?

LesMigras, der seit 1998 bestehende Antigewalt- und Antidiskriminierungsbereich für lesbische und bisexuelle Frauen sowie trans* und inter* Personen mit und ohne Migrationshintergrund der Lesbenberatung Berlin e. V., hat dazu ein empfehlenswertes Arbeitsbuch mit dem Titel „Grenzen setzen“ veröffentlicht. „Mein Raum – dein Raum – unsere Schnittmenge. Was, wenn mir etwas zu viel wird?“, so lautet es in der Einleitung des 64 Seiten langen Ratgebers. „Du musst es dir weder von deiner Beziehungsperson noch von einer betrunkenen unbekannten Person auf einer Party gefallen lassen, ungewollt angefasst zu werden“, betont das Buch. „Es geht um Empowerment auf verschiedenen Ebenen und Unterstützung bei der Aufarbeitung von Erlebtem“, erläutert Dr. Pum Kommattam, Psychologe im interkulturellen Team von LesMigras.

Empowerment, Aufarbeitung, Körpergrenzen ... „Jetzt seid doch mal bitte nicht so empfindlich!“, mögen einige vielleicht denken. Und, ja, nicht jede Verletzung einer Körpergrenze ist mit einer Vergewaltigung gleichzusetzen. Dennoch sollte klar sein, dass es sich bei der Empörung über vermeintlich minderschwere Grenzüberschreitungen um weitaus mehr handeln kann als die Kultivierung einer politisch korrekten Anschauung. Viele Queers, meist aus dem FLTI*-Spektrum, tragen beispielsweise durch Missbrauchserfahrungen oder Ähnliches einen problematischen Hintergrund mit sich herum, den man ihnen nicht auf den ersten Blick ansieht, den es aber dennoch zu respektieren gilt.

Wunsch nach Schutzräumen

Wie genau das allerdings in der Praxis aussehen soll, ist sicherlich nicht unum- stritten. Das Ende November zum zweiten Mal stattfindende queere „Transformations“-Filmfestival gibt beispielsweise konkrete „Benimmregeln“ für Besucher*innen heraus. Darin wird unter anderem konstatiert, dass Flirting auf dem Festival nicht akzeptabel sei. Was auf den ersten Blick absurd wirkt, wird in den Festivalregeln folgendermaßen begründet: „Es gibt Menschen mit vielen, vielfältigen (a)Sexualitäten auf dem Festival, und manche Menschen möchten nicht flirten.“

Hinter einem solchen Regelwerk steckt der Wunsch, queeren Menschen, die häufig körperlich zum Opfer gemacht wurden, einen Schutzraum zu geben. Einen Ort, an dem ihre jeweiligen Körpergrenzen respektiert werden. Flirten könnte hierbei zum unnötigen Trigger werden. Was das bedeutet? Durch einen eigentlich ziemlich harmlosen Vorgang kann ein Flashback ausgelöst werden, Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Doch welches Setting hat überhaupt das Zeug für einen solchen Schutzraum? Wie „safe“ kann ein öffentlicher Raum sein – auch wenn er für einen Moment von LGBTIs dominiert wird?

Nach dem CSD 2018 gab es beispielsweise bei Facebook diverse Beschwerden, meist von US-amerikanischen trans Frauen of Color, die nach eigener Auskunft im Rahmen der Parade übergriffig berührt wurden. Alles bloß Hysterie? Auch hier muss man etwas in die Tiefe gehen, um zu verstehen, warum sich Menschen mit unterschiedlichen ethnischen Zugehörigkeiten unterschiedlich schnell in ihren Körpergrenzen verletzt fühlen. Einer Schwarzen Person beispielsweise plump in die Haare zu fassen ist mitnichten erotisch – es ist erniedrigend. Wer wird schon gerne vorgeführt wie ein Kolonialexponat in einer Hagenbeck-Völkerschau? Dass es diese arrogante Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen bestimmter ethnischer Gruppen immer noch gibt, auch innerhalb der LGBTI-Community, ist empörend.

Grapschen: kein „Kavaliersdelikt“

Dennoch muss man fragen, ob Megaevents wie der CSD, bei denen Scharen von oft alkoholisierten Menschen aufeinandertreffen, wirklich Schutzräume sein können? Sollen wir etwa dort Übergriffe in Kauf nehmen, wie man es beim Oktoberfest auf den Münchner Wiesn oder beim Kölner Karneval de facto tut? Oder haben wir das Recht, auch von einer Riesenveranstaltung zu verlangen, ein Schutzraum zu sein, in dem unsere Körpergrenzen respektiert werden?

Einen rechtlichen Rahmen gibt es wohl. Sexuelle Belästigung mit körperlicher Berührung steht seit der Verschärfung des Sexualstrafrechtes im November 2016 explizit unter Strafe. Früher wurde das Grapschen als Kavaliersdelikt bagatellisiert, wenn überhaupt geahndet. Der neue Paragraf 184i StGB hingegen stellt einschlägige Handlungen unter Strafe, welche die Schwelle der sexuellen Nötigung bzw. Vergewaltigung im Sinne von § 177 StGB nicht überschreiten, aber trotzdem die sexuelle Selbstbestimmung der oder des Geschädigten verletzen. Vor dem Hin- tergrund der berüchtigten Kölner Silvesternacht 2015/16 gibt es außerdem einen Strafverschärfungsgrund bezüglich sexueller Angriffe, die aus einer Gruppe heraus begangen werden. Nun drohen Grapschern, egal ob einzeln oder in Gruppen auftretend, bis zu fünf Jahre Haft.

Allerdings stoßen diese notwendigen Verschärfungen auch an ihre Grenzen. Denn die Beweislage ist kaum leichter geworden und der allzu vereinfachte Grundsatz „Nein heißt Nein“ scheitert oft am Dilemma Aussage gegen Aussage. Immerhin ist seither eine deutliche Zunahme entsprechender Strafanzeigen zu verzeichnen. Das hängt sicherlich auch mit der #metoo-Kampagne zusammen, durch die es Opfern sexueller Gewalt leichter gemacht wurde, ihre Stimme zu erheben. Millionen Betroffene haben mittlerweile ihr Schweigen gebrochen.

Respekt fängt bei uns selbst an

So weit, so gut. Doch der Aufschrei wirft bei einigen allerdings Fragen auf: „Was geht überhaupt noch?“ Natürlich sind solche Fragen an und für sich legitim. Doch sie klingen häufig wie dünn verschleierte Vorwürfe und haben einen eindeutigen Beigeschmack: Sie offenbaren die Angst der Männer davor, sexuelle Machtansprüche, die im patriarchalen Paradigma tief verwurzelt sind, unwie- derbringlich zu verlieren. Das betrifft auch und gerade die queeren Körper, die in der heteronormativen Gesellschaft geformt wurden.

Das Thema Körpergrenzen geht vielen von uns direkt unter die Haut – und Verletzungen unserer körperlichen Integrität und Autonomie können uns gleichsam aus der Haut fahren lassen. Generell sollte man eines realisieren: Das größte Sexualorgan sitzt nicht zwischen den Beinen, sondern im Kopf. Das Gehirn sollte bei aller Euphorie und Neugierde betriebsbereit bleiben, und zwar schon zum Eigenschutz. Die Wertschätzung der körperlichen Grenzen anderer Menschen fängt sowieso mit der Wahrnehmung der eigenen an.

Es muss endlich begriffen – und berücksichtigt – werden, dass es innerhalb der queeren Gemeinschaft unterschiedliche Grenzen gibt. Wir in der Regenbogen-Community müssen dafür Sorge tragen, dass die angestoßene Debatte über Körpergrenzen nun die Konturen eines Dialoges annimmt. 

Michaela Dudley

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