Juso-Chef im Interview

Kevin Kühnert im Interview: „Wir müssen uns als eine politische Community begreifen“

12. Juli 2019
Bild: Nadine Stegemann
Kevin Kühnert

Wir sprachen mit dem Politstar und umstrittenen Hoffnungsträger der SPD über die Krise seiner Partei, sein mediales Coming-out, den skandalösen Entwurf zur Reform des „Transsexuellengesetzes“ und queere Allianzen

Kein Zweifel: Kevin Kühnert ist der SPD-Mann der Stunde. Während die Wahlergebnisse seiner Partei stetig schlechter werden, gilt er vor allem jungen Menschen und dem linken Flügel der Partei als Hoffnungsträger, um die Sozialdemokraten aus der personellen und inhaltlichen Krise zu befreien. Eine Kandidatur als SPD-Chef hat er zumindest nicht ausgeschlossen.

Wir baten den schwulen Politiker zum Gespräch

CDU, Grüne, Linke, AfD – längst fischen andere Parteien im sozialen Gewässer. Warum schafft es die SPD, das Original, nicht, mit sozialen Themen zu punkten? Wir haben in den vergangenen 20 Jahren bekanntermaßen Glaubwürdigkeit verspielt. Ich glaube nicht, dass eine andere Partei unser ureigenstes Thema, die soziale Frage, wirklich glaubwürdig besetzt. Aber wir taten das lange auch nicht und kaum etwas ist nun mal schlimmer als enttäuschte Liebe.

Dort, wo die demokratischen Parteien nicht mehr über die großen Fragen wie Wohlstandsverteilung, den Wert von Arbeit oder Daseinsvorsorge streiten, eröffnet sich ein Feld, das von anderen besetzt wird: im besten Fall von Grünen, die über Klimaschutz diskutieren. Im schlechtesten Fall gibt es Rechtspopulisten, die uns über Jahre dazu zwingen, uns immer und immer wieder über Asyl und Migration mit Identitätsfragen auseinander zu setzen. Insofern wird eine Stärke der SPD und damit auch ein Geraderücken der politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland nur darüber zu erreichen sein, dass die SPD mit ihrem politischen Gegenstück – und das ist immer noch die Union – die Auseinandersetzung über die großen Fragen wieder sucht.

Das war ja 2018 unser Plädoyer als Jusos, nicht immer Große Koalitionen einzugehen. Wenn man dauernd zusammenarbeitet, nimmt einen irgendwann keiner mehr als zwei unterschiedliche Parteien wahr – sondern als ein und dasselbe.

In Berlin wurde zuletzt mehrheitlich grün gewählt, ringsum in den ostdeutschen Bundesländern blau. Was fällt Ihnen denn Positives zur AfD ein? Wenn ich etwas Produktives rausziehen möchte, dann die Tatsache, dass Stimmungen und Potenziale in unserer Bevölkerung sichtbar geworden sind. Wir können uns keine Illusionen mehr darüber machen, dass es erhebliche Teile in unserer Gesellschaft gibt, die empfänglich sind für Parteien, die sich sehr fragwürdig präsentieren und das mit Minderheitenschutz und Menschenrechten nicht immer so genau nehmen – oder die sogar noch viel weiter gehen.

Das heißt nicht, dass die Wählerinnen und Wähler dieser Partei ein geschlossen rechtsradikales Weltbild haben. Das ist nur bei den Wenigsten der Fall. Aber solche Parteien sind in der Lage, wenn sie die Themen der Gesellschaft dominieren und bestimmen – und das haben sie in den letzten Jahren getan – erhebliche Potenziale bis hin zu 20 oder mehr Prozent zu organisieren.

Eine positive Erkenntnis ist gleichzeitig, wenn man mit den Leuten spricht, und sich Studien anguckt, dass die wenigsten von denen tatsächlich aus ihrem Innersten heraus von Islamfeindlichkeit oder Überfremdungsängsten angetrieben sind. Vielmehr merkt man bei Gesprächen in Hochburgen der AFD, dass es um das Thema Abgehängtsein geht. Das Gefühl, dass die Gesellschaft sie, gerade im ländlichen Raum, vergessen hat.

Es gibt Leute, die haben im Turbotempo erlebt, wie ihre Lebensleistung ein Stück weit zerstört wurde, wie die öffentliche Infrastruktur kaputt gemacht wurde, Bahnlinien eingestellt, öffentliche Wohnungen verkauft wurden. Das ist der eigentliche Quell von einem erheblichen Teil dieser Verärgerung, die sich da Bahn bricht. Alles Dinge, die sind massiv, aber eben auch politisch änderbar. Und das ist das Ermutigende an dieser Situation.

In Brandenburg regiert die SPD. Wieso lässt man sich dort von den Populisten die Butter vom Brot nehmen? Weil viele der sozialen Verwerfungen, mit denen wir es zu tun haben, nicht alleine auf der Ebene der Bundesländer gelöst werden können. Wenn ich mit Leuten darüber rede, was Hartz-IV in ihrem Alltag bedeutet, und sei es nur als Bedrohungsszenario, dann kann das Ministerpräsident Dietmar Woidke nicht auflösen. Die Tatsache, dass man heute im schlimmsten Fall nach 12 Monaten Arbeitslosigkeit ins Nichts gefallen sein kann, seine Wohnung verliert, seine Altersvorsorge aufbrauchen muss: Das sind Grundsatzentscheidungen, die müssen in der Bundespolitik getroffen werden.

Eine Landesregierung kann nur bedingt Mittel aufbringen, um Busse und Bahnen wieder fahren zu lassen oder dafür zu sorgen, dass nicht der letzte Arzt in der Kleinstadt schließt. Was man in den Ländern tun kann und muss, dass ist einen klaren Trennstrich zur AfD zu ziehen, sie nicht salonfähig zu machen. SPD und Co. tun das in Brandenburg, die CDU leider nicht. Das ist brandgefährlich.

Nach Ihrem Coming-out in der SIEGESSÄULE Anfang 2018 gab es eine große Medienresonanz. Sie waren u. a. bei Markus Lanz. Wie war diese Zeit für Sie persönlich? Ich habe in den vergangenen anderthalb Jahren sehr viel Medienerfahrung gesammelt. Natürlich ist das immer noch etwas, das spannend zu diskutieren ist. Deshalb wurde das auch bei Markus Lanz aufgegriffen. Neben mir saß Karl Lauterbach. Der ist von Lanz gefragt worden, ob er es wusste. So entspannt, wie man das nur sagen kann, meinte der, erstens, nö, wusste ich nicht. Zweitens, ist aber für unsere Zusammenarbeit in der SPD auch völlig egal.

Die sexuelle Orientierung ist nicht die Grundlage, auf der wir in der SPD Politik miteinander machen. Das wusste ich natürlich auch vorher, und trotzdem empfand ich das als einen schönen Moment, weil es bei einem Vertreter der etwas älteren Generation in meiner Partei so glaubwürdig gezeigt hat, dass das wirklich im täglichen Umgang viel weniger von Bedeutung ist als für Außenstehende. Wenn das der Trend der Entwicklung ist, ist das eine schöne Sache.

Homophobie, Transphobie, Hassverbrechen, Hasskommentare in sozialen Medien – gefühlt nehmen die mitunter wieder zu. Wie schätzen Sie das ein: Sind die Freiheiten und Errungenschaften, für die wir in den letzten Jahrzehnten gekämpft haben, wieder in Gefahr? Es gibt immer die Gefahr einer Backlash-Entwicklung. Dass man an einen Punkt kommt, an dem die Mehrheitsgesellschaft findet: Jetzt ist aber auch mal gut! Das begegnet der queeren Community schon lange. Es gibt immer wieder Leute, die sagen: So, können wir jetzt bitte auch mal wieder über etwas anderes reden? Das ist etwas, was mir in der Politik grundsätzlich unangenehm aufstößt, da es den Eindruck vermittelt, die Gesellschaft könne zur selben Zeit nur über ein einziges Thema reden.

Wir kennen diese Theorie vom leidigen Beispiel der Toiletten für diversgeschlechtliche Menschen. Die müssen immer wieder von Konservativen als Beispiel dafür herhalten, wie sehr diese Linksgrünen sich von den realen Problemen entfernen. Nicht nur, dass das Thema völlig hochgejazzt wird, es stimmt einfach nicht, dass, wenn man irgendwo eine dritte Toilette einführt oder das „Transsexuellengesetz“ diskutiert, keine Zeit mehr bleibt, sich um Renten, Arbeitsmarkt oder Umweltpolitik zu kümmern. Das ist Blödsinn! Da muss man standhaft bleiben und sagen: Nein, wir meinen das mit Gleichstellung schon ernst und sind auch erst zufrieden, wenn die tatsächlich erreicht ist.

Wir müssen aber auch deutlich machen, dass wir uns als eine politische Community begreifen. Nicht nur als eine Selbstvertretungs-Community, die für die eigenen Interessen eintritt. Sondern eine, die gewillt ist, das, was sie von anderen einfordert, in andere Richtungen auch zu leisten. Wir müssen zeigen, dass uns soziale Konflikte in der Gesellschaft nicht egal sind, dass wir uns solidarisieren mit anderen Gruppen, die auch marginalisiert sind – seien es migrantische Gruppen oder auch Jüngere in der Gesellschaft, die in ähnlicher oder ganz anderer Weise darunter leiden, dass sie nicht zu ihrem Recht kommen oder nicht ausreichend repräsentiert sind. Wer den Eindruck vermittelt, dass er auf einem permanenten Egotrip unterwegs ist, der wird auf Dauer Probleme damit haben, Solidarität für sein eigenes Anliegen zu bekommen.

Stichwort Solidarität innerhalb der LGBTI-Community: Der neue Entwurf des „Transsexuellengesetzes“, u. a. auch von einer SPD-Ministerin, wurde zu Recht als skandalös kritisiert, weil die Selbstbestimmung für trans* Personen nach wie vor nicht gegeben ist. Was sagen Sie dazu?
Das ist auch für uns sehr ärgerlich, weil wir als Jusos genauso wie die SPDqueer dieses Thema seit Jahren bearbeiten. Die SPD hat sich in ihrem Wahlprogramm klar für das Selbstbestimmungsrecht von trans- und intergeschlechtlichen Menschen ausgesprochen. Unser Koalitionspartner kann damit leider rein gar nichts anfangen. Für uns ist völlig klar, dass jegliches sich psychologisch Nackigmachen vor Dritten, um zu rechtfertigen, warum man seine Personenstandsänderung umsetzen will, demütigend ist. Eine freie Gesellschaft kann nicht darin bestehen, dass andere darüber bestimmen, welche Identität ich habe und ob ich dazu berechtigt bin, sie zu führen.

Das ist leider ein Beispiel, bei dem man sieht, dass in so sensiblen Fragen, wo es um Richtungsentscheidungen geht, die Zeiten einer Großen Koalition nicht die besten sind, vorsichtig gesagt, um dort für die Betroffenen gesellschaftlichen Fortschritt organisieren zu können. Man muss sich einfach mal klar machen, egal, ob wir über Asylrechtsverschärfung oder das „Transsexuellengesetz“ sprechen, es gibt ein paar Themen, die sind von so grundsätzlicher Bedeutung für Betroffene, dass sie sich einfach nicht als politische Verhandlungsmasse eignen.

Vor 50 Jahren begann mit Stonewall die moderne queere Bürgerrechtsbewegung. Heute beklagen sich einige, dass queere Politik, wie sie sie damals verstanden haben, nie verwirklicht wurde. Das kann man jetzt in Deutschland ähnlich sehen, wenn man sagt, die Ehe für alle ist nicht unbedingt das, was politische Teile der Community einst gewollt haben. Wie schätzen Sie das ein? Ich kann mich nicht authentisch in die Situation derer hinein versetzen, die damals gekämpft haben. Was ich mir vor Augen führen kann ist, dass offensichtlich die Bedingungen, die ich als noch relativ junger schwuler Mann heute in Deutschland vorfinde, fundamental andere sind. Das heißt nicht, dass heute alles in Butter ist. Aber die Tatsache, dass ich und viele andere in einer Atmosphäre der relativen Angstfreiheit, zumindest der Angstfreiheit vor polizeilicher Verfolgung oder körperlicher Züchtigung ihren Prozess durchmachen konnten, ist nicht zu unterschätzen.

Ich weiß, dass das für viele Betroffene, die zum Beispiel für ihre 175er-Verurteilung nie eine ernsthafte Entschädigung bekommen haben, nur ein schwacher Trost ist, weil sie persönlich nicht so viel davon haben. Aber ich würde ihnen immer zurufen, dass ihr Kampf nicht umsonst gewesen ist. Weil sonst ich und die anderen aus meiner Generation diese Bedingungen nicht vorgefunden hätten. Unsere Aufgabe ist es nun, zu widersprechen, wenn behauptet wird, es sei ja alles erreicht. Davon sind wir noch immer weit entfernt.

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