SIEGESSÄULE präsentiert

24-stündiges Drag-Epos

7. Okt. 2019
Taylor Mac © Little Fang

Falls man eine 24-stündige Show tatsächlich kurz zusammenfassen kann: Worum geht es bei „A 24-Decade History of Popular Music“? Taylor Mac: Der Titel sagt es eigentlich schon, die künstlerische Konzert-Performance präsentiert 246 Songs, die zwischen 1776 und heute in den USA geschrieben wurden und jeweils in diesen Jahren populär waren. Das ist der Rahmen. Thematisch geht es darüber hinaus um die verschiedenen Communitys in der Geschichte der USA, die sich erst gebildet haben, weil sie in ihrem Bestand bedroht waren.

Kannst du das an Beispielen erläutern? T. M.: Ich denke da etwa an die jüdischen Immigranten, die nach der Flucht vor den osteuropäischen Pogromen in den USA neue Gemeinschaften aufgebaut haben. Oder etwa an die Aids-Krise: wie sich die queere Community durch Organisationen wie Act Up neu organisiert hat, gerade weil sie durch die Krise auseinanderzubrechen drohte.

Warum brauchst du dafür auf vier Abende verteilte 24 Stunden? T. M.: Der Inhalt bestimmt hier die Form: Um die Geschichte von Zusammenbruch und Neuanfang zu erzählen, braucht es eine Länge, in der auch das Publikum ein bisschen auseinanderfällt. Ich breche zusammen, mein Team bricht zusammen, das Publikum bricht zusammen – und als Resultat schaffen wir untereinander eine Verbindung und etwas, das größer ist als wir selbst.

Es ist vielleicht eine merkwürdige Analogie, wenn man an deine Show denkt, aber ich sehe in der Konzeption Ähnlichkeiten zu Richard Wagners „Ring des Nibelungen“. Siehst du dich in der Tradition des Gesamtkunstwerks? T. M.: Ich habe mich eher mit dem griechischen Drama beschäftigt, das ja auch tagelang dauerte. Es ist die Idee, Leute aus ihrer gewohnten Routine zu lösen, um etwas Außergewöhnliches zu erleben. Und ein zweistündiges Stück löst dich eben nicht unbedingt aus deinem Alltag heraus. Im Unterschied zu Wagner haben wir aber nicht nur einen rein passiven Rezeptionsansatz. Wir binden das Publikum ein – man sitzt und schaut zwar auch mal einfach zu, aber das Publikum springt auch oft auf, bewegt sich frei im Raum und lernt sich dabei sogar vielleicht untereinander kennen, bildet eine echte Gemeinschaft.

Ein wichtiger und sehr sichtbarer Teil des Gesamtkunstwerks sind die flamboyanten Kostüme von Machine Dazzle. Wie läuft eure Zusammenarbeit ab? Machine Dazzle: Ich bin komplett frei, ich kann machen, was immer ich will. Aber natürlich muss sich Taylor bewegen können, er muss ja damit auf der Bühne performen. Trotzdem sind meine Kostüme grundsätzlich immer sehr groß und sehr verrückt.

Wie findest du die Ideen dafür? M. D.: Es sind 24 Kostüme, eines für jede Dekade. Ich möchte, dass die Kostüme ihren eigenen Charakter haben, eine eigene Show darstellen: eine eigene Geschichte dieser 24 Jahrzehnte. Dafür habe ich mir angeschaut, was damals passierte, welche Ideen aufkamen, was neu erfunden wurde. Aber auch die Politik war interessant, etwa wer mit wem Krieg geführt hat oder wie es um die Frauenrechte stand.

Welches ist das komplizierteste gewesen? M. D.: Jedes der Kostüme ist natürlich auf seine Art kompliziert zu fertigen. Aber was die Konzeption angeht, hat mir das Kostüm für die Dekade nach dem Bürgerkrieg, also 1866–1876, am meisten Probleme bereitet. Der Krieg war vorbei, die Sklaven befreit, es hätte also eigentlich eine tolle Zeit sein müssen. Aber natürlich gab es immer noch Rassismus …

Was denkt ihr über die Art, wie die Dragkultur heute in den Mainstream-Medien präsentiert wird? T. M.: Ich nenne es „Corporate Drag“, also Drag als Geschäftsmodell – wobei es natürlich interessant ist, dass eine Firma so eine großartige Form annehmen kann wie eine Dragqueen. Alles trägt heute ein Label oder ein Logo wie zum Beispiel das von „RuPaul‘s Drag Race“. Traditionell ist Drag eine großartige Kunstform, um dem sozialen Diktat zu entkommen und Druck abzubauen. Ich frage mich, was mit dieser Kunstform passiert, wenn sie durch die Kommerzialisierung irgendwann einmal die Fähigkeit verliert, die Gesellschaft wirklich infrage zu stellen.

Die US-amerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts ist auch hierzulande bekannt. Anders sieht es mit der Zeit davor aus. Sollte man sich vorher schlaumachen? T. M.: Ich denke, die Show ist selbsterklärend. Sie ist so aufgebaut, dass auch jemand, der keine Ahnung von der US-amerikanischen Geschichte hat, versteht, worum es geht. Wahrscheinlich wissen die Deutschen eh mehr über unsere Geschichte als wir selbst. Und es geht auch vielmehr um das Hier und Jetzt als um die Vergangenheit – auch wenn wir dazu zunächst ein bisschen darüber sprechen müssen, was früher geschehen ist.

Wie ist es, die Show vor einem nicht US-amerikanischen Publikum aufzuführen? T. M.: Wir haben die Show schon in Barcelona gezeigt. Im Ausland denken die Leute ja im schlimmsten Fall, die USA sind wie Donald Trump – und im besten Fall, wie … Meryl Streep. Und keiner von beiden repräsentiert natürlich das, was ich als queere Dragqueen darstelle. Es ist eine tolle Gelegenheit zu zeigen, dass alles eben doch ein bisschen komplizierter ist.

Interview: Carsten Bauhaus

SIEGESSÄULE präsentiert
Taylor Mac – A 24-Decade History of Popular Music, Chapter 1–4,
10., 12., 18., 20.10., 18:00, Haus der Berliner Festspiele
berlinerfestspiele.de

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