Interview mit Kenny Fries

Queerness und Menschen mit Behinderung

13. Feb. 2020 Isabel Ehrlich
Kenny Fries

SIEGESSÄULE sprach mit dem schwulen Autor Kenny Fries über Mehrfachdiskriminierung und die wichtige Rolle von Communities

In seinen Werken verhandelt der US-amerikanische Autor und Universitätsprofessor Kenny Fries seine Mehrfachzugehörigkeiten als schwuler, jüdischer Mann mit Behinderung. Am 13. Februar wird Fries, der mittlerweile in Berlin lebt, bei einer Podiumsdiskussion im Schwulen Museum sprechen. Wir baten ihn vorab zum Interview

Herr Fries, was bedeutet Intersektionalität für Sie persönlich? Ich habe immer Witze darüber gemacht, wenn man mich auf die Begriffe „schwul“ und „behindert“ reduziert hat. Denn die stereotype Vorstellung eines Schwulen ist ja, dass er sehr sexuell sei, während behinderte Menschen oft so dargestellt werden als hätten sie überhaupt keine Sexualität. Demnach wäre ich also ein sexuell extrem aktiver Asexueller (lacht). Das zeigt die Absurdität der Sichtweisen, mit denen Menschen auf diese Dinge schauen. Im Februar 2022 werde ich die Schau „Queering the Crip, Cripping the Queer" im Schwulen Museum mit kuratieren. Dies wird die erste Ausstellung sein, die sich den Schnittpunkten zwischen der Geschichte und Kultur von Queers einerseits, und der von Menschen mit Behinderungen andererseits widmet. Es ist interessant zu sehen, wie ähnlich queere Menschen und Menschen mit Behinderungen behandelt und betrachtet wurden.

Mit welchen Formen von Diskriminierung sind Sie konfrontiert, die den Menschen um Sie herum vielleicht gar nicht so bewusst sind? Seitdem ich vor sechs Jahren nach Deutschland gekommen bin, habe ich mich als behinderte Person hier immer weniger wohl gefühlt. Ein Beispiel: die Situation in einem Restaurant, wenn versucht wird, einen Platz für meinen Rollstuhl zu finden. Es gibt immer diesen Moment, wenn man hereinkommt und merkt, dass sich viele denken: „Wie gehen wir jetzt damit um?“ In Italien etwa ist es eher so: „Oh, ein Rollstuhl, kein Problem". Das Angestarrt-werden ist auch etwas, das mich hier stört. Menschen reagieren vor allem auf meine Behinderung, weil diese am sichtbarsten ist.

Wie wichtig ist es für Sie, Teil einer Community zu sein? Communities sind sehr wichtig. Das Problem ist aber, wenn man sehr viele Identitäten hat, ändert sich ständig die eigene Rolle. Wenn ich in einer Gruppe von Schwulen bin, bin ich „der Behinderte“, wenn ich mit Menschen mit Behinderung zusammen bin, bin ich „der Schwule“. Ich habe eine Community für Menschen mit Behinderung gefunden, und ich habe eine schwule Community gefunden... aber etwas zu finden, in dem beides miteinander verbunden ist, ist nicht so einfach. Da ich zu unterschiedlichen Communities gehöre, kann es zum Beispiel, bei einer Party bei mir zu Hause passieren, dass sich Menschen treffen, sie sich sonst nie getroffen hätten. Die meisten behinderten Menschen kennen allerdings jemanden, der queer ist - aber es gibt viele Queers, die keine Menschen mit Behinderung kennen.

Sie haben den „Fries-Test“ entwickelt, der aufzeigt, wie sichtbar Menschen mit Behinderungen in der Populärkultur sind. Inspiriert wurden Sie durch den „Bechdel-Test“, der die Repräsentation von Frauen* in Spielfilmen misst. Wie waren die Reaktionen auf Ihre Version des Testes? Zur Repräsentation von Menschen mit Behinderungen in Kunst und Kultur hatten sich die meisten zuvor noch nie Gedanken gemacht. Mittlerweile wird mein Test aber recht erfolgreich verwendet. Das Ergebnis: viele Bereiche schneiden noch eher schlecht ab. In einer Welt, in der Millionen Menschen mit Behinderungen wohnen, würde man zum Beispiel annehmen, dass es ein genügend großes Maß an Sichtbarkeit in der Literatur gibt - dem ist aber nicht so.

Ein Hauptteil Ihrer Arbeit besteht darin, darüber aufzuklären, wie die Nazis systematisch behinderte Menschen ermordet haben - der so genannte T4-Plan. Warum konzentrieren Sie sich auf diesen Teil deutscher Geschichte? Die große Bedeutung der Geschichte von Menschen mit Behinderung in diesem Bereich wird nicht erkannt, und auch nicht die Auswirkungen auf das, was danach geschah. Die „-ismen“, der Antisemitismus und die Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderung sind miteinander verbunden.

Wie denken Sie über die derzeit wachsende Zahl rassistischer und antisemitischer Straftaten und Tendenzen in Deutschland? Es ist schrecklich - aber das passiert nicht nur hier, sondern auch in den USA. Das zeigt im Grunde, dass meine Arbeit wichtig ist.

Fühlen Sie sich hier sicher? Ich fühle mich nicht sicher. Darüber spreche ich seit 9/11: Das war die Zeit, in der andere Menschen begannen, sich unsicher zu fühlen. Ich dachte dann, dass ich mit diesem Gefühl bereits mein ganzes Leben zu tun habe. Meist fühle ich mich hier sicherer als in den USA - aber vielleicht ist das naiv.

Interview: Isabel Ehrlich

Antisemitismus intersektional denken, Podiumsdiskussion.
13.02., 19:00, Schwules Museum

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