Die kleine Inka-Lüge

Die Kolumne von Dirk Ludigs
– Nachdem der Inka Túpac Yupanqui alle Nachbarvölker unterworfen hatte, setzte er eine Legende in die Welt: Vor den Inka, so ließ er bergauf und -ab verkünden, gab es keine Kultur, keine Zivilisation. Erst die Inkas hätten die Andenvölker zu dem gemacht, was sie nun seien.
Auch der LSVD hat seit letzter Woche seine kleine Inka. Die heißt Claudia Roth. Zum 25. Geburtstag des LSVD verkündete sie in ihrem Grußwort wie unglaublich es sei, „dass aus einem Haufen zerstrittener Schwulenbewegter [...] eine so staatstragende und seriöse Veranstaltung geworden ist“ – wie eben der LSVD. In der taz stößt Jan Feddersen ins selbe Horn: Die Schwulen- und Lesbenbewegung vor dem LSVD sei nichts weiter gewesen als ein „alternativer Zirkel“ von „Platzhirschen und -kühen“, „Ellenbogenmenschen“ mit nichts als „informellen Strukturen“. Natürlich, räumt Feddersen ein, müsse so ein Verein „auf die Nerven gehen [...], weil er beansprucht, für alle Homos zu sprechen; und weil er nüchtern-unpompös um Einflüsse in der heterosexuellen Welt kämpft und auf Befindlichkeiten der autonomen Queerbewegung nicht eingeht.“
Legenden zu bilden ist wichtig, denn wem ihre Durchsetzung gelingt, der hat die Deutungshoheit über die Geschichte und zementiert seinen Machtanspruch. Zeit also, ein wenig Wasser in den Geburtstags-Rosé zu kippen. Wenn die Gründung des SVD (die Lesben kamen erst ein bissel später dazu) vor 25 Jahren tatsächlich ein solcher Meilenstein war, der einem wilden Haufen erst die Zivilisation brachte, warum ist dann, die Frage sei erlaubt, die deutsche LGBT-Bürgerrechtsbewegung bis heute die mit Abstand erfolgloseste der westlichen Welt? Denn, das muss sie selbst einräumen: Von ihren eigenen Zielen hat sie bis heute so gut wie keins erreicht.
Statt der Öffnung der Ehe, wie sie mittlerweile in 18 Ländern der Erde erfolgt ist, darunter Brasilien, Südafrika, 38 Bundesstaaten der USA (bald 50)und alle unsere westlichen Nachbarn, existiert in Deutschland nur ein fragwürdiges Sonderkonstrukt für Homosexuelle, die Lebenspartnerschaft, nach deren Eingehen man weiterhin ledig bleibt. Die Opfer des Naziparagrafen 175, der bis 1969 in der BRD galt, sind bis heute nicht entschädigt. Die Adoption leiblicher Kinder von homosexuellen Partnern bleibt ein schwieriges Unterfangen. Der Artikel 3 des Grundgesetzes schweigt noch immer zur Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität.
Es reicht eben offensichtlich nicht, das Häppchenessen mit den Mächtigen schon als Erfolg zu verbuchen – wenn man dabei nicht ab und an auch mal ein eigenes Zielchen durchsetzt. Um von dieser seit 15 Jahren anhaltenden, erschütternden Erfolglosigkeit abzulenken, schreiben die Geburtstagsgratulanten dem LSVD, einem Verein mit heute gerade mal viertausend Mitgliedern, nun ausgerechnet als Erfolg zu, wofür er am allerwenigsten kann: die zunehmende Akzeptanz von LSBTI-Menschen in der Gesellschaft.
Gerade die nämlich ist der große Erfolg des wilden Haufens schwuler und lesbischer Männer und Frauen, Transgender, Trans- und Intersexuellen und Queers, die manchmal mit und viel öfter ohne LSVD die Kraft gefunden haben, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, sich zu befreien und damit en passant die Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Das taten sie in ihren Familien, ihren Betrieben und auf den CSDs schon zu Zehn- und Hunderttausenden, lange bevor der SVD überhaupt gegründet wurde. Das tat Rosa von Praunheim 1991 mit seinem Outing von Biolek und Kerkeling – allein bei dem Gedanken daran rollen sich heute noch aufrechten Bürgerrechtlerinnen die Fußnägel hoch. Das taten vor allem aber Schwule, Lesben und ihre Freunde verzweifelt, wütend und entschlossen im Kampf gegen Aids, der rückblickend den wichtigsten Beitrag zur gesellschaftlichen Akzeptanz von Schwulen und Lesben geleistet hat und ohne den die größte Errungenschaft der Bürgerrechtlerinnen – die Lebenspartnerschaft – wohl nie so schnell gekommen wäre. Auch die Abschaffung des Paragrafen 175 hatte wenig mit deren erfolgreicher Lobbyarbeit zu tun – aber viel mit dem Fall der Mauer und der Rechtsangleichung von Ost und West.
Gay Rights – die Gleichheit vor dem Gesetz, die sich die Bürgerrechtlerinnen rund um den LSVD auf ihre Fahnen geschrieben haben, wogegen nichts zu sagen ist, sind aber eben nur Teil von und nicht Ersatz für Gay Liberation, die gesellschaftsverändernde Selbst-Befreiung von LSBTI-Menschen. Mehr noch, Gay Rights sind immer nur so gut oder so schlecht wie die Gesetze, an die sie angeglichen werden. Auch da ist Deutschland, milde ausgedrückt, noch entwicklungsfähig.
Angenehmerweise wurden die Jubilare dann doch noch daran erinnert, dass „der Kampf um die Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans– und Intersexuellen nicht nur im Bundestag gewonnen [wird], sondern auch auf den Straßen und öffentlichen Plätzen, in unseren Städten und Dörfern, in Schulen, Unternehmen sowie in den Wohnzimmern und an den Küchentischen unserer Familien und Freunde – und schließlich eben in den Herzen und Köpfen aller Menschen.“ Ins Stammbuch geschrieben hat es ihnen – Oh Ironie – ausgerechnet der US-amerikanische Botschafter John B. Emerson. Der unübersehbare Erfolg, den die amerikanische Bürgerrechtsbewegung trotz sehr viel widrigerer Umstände seit ein paar Jahren im Unterschied zur deutschen genießt, hat nämlich vor allem damit zu tun, dass sie sich stets als Teil und Ergänzung der „direct action“, der Graswurzelbewegungen vor Ort verstanden hat, anstelle sich wie hier als ihren staatstragenden Gegenentwurf zu inszenieren.
Die große Inka-Lüge übrigens hat Jahrhunderte länger gehalten als das Inka-Reich selbst. Erst in den letzten Jahrzehnten bringen Archäologen die Wahrheit ans Licht: Die Inkas standen auf den Schultern großer Vorfahren, alle voller Kultur und Zivilisation, den Chimú, den Huari, den Moche – die einen konnten nichts werden ohne die anderen. Die kleine Inka-Lüge der deutschen schwul-lesbischen Bürgerrechtlerinnen wird, so bleibt für den gesellschaftlichen Fortschritt zu hoffen, nicht ganz so lange halten.
Dirk Ludigs
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