Film

Arschgefickt: „Eisenstein in Guanajuato”

2. Nov. 2015 Andreas Scholz
Bild: Edition Salzgeber

Mit seinem Biopic „Eisenstein in Guanajuato“ über die ersten homosexuellen Erfahrungen des russischen Filminnovators Sergej Eisenstein inszeniert der britische Regisseur Peter Greenaway ein wunderbar radikales und frisches Alterswerk

Es war das kraftvollste queere Bild auf der diesjährigen Berlinale: Der große Filmemacher Sergej Eisenstein liegt nackt ausgestreckt vor seinem Liebhaber, der im gerade frisch entjungferten Arsch der russischen Nationalikone ein rotes Fähnchen hisst. Es lebe die Revolution! Nicht nur Eisenstein wird sexuell befreit, sondern auf einer symbolischen Ebene Russland gleich mit. Ein toll inszenierter Mittelfinger in Richtung Putin!

Dabei wird es für die meisten wohl neu sein, dass der weltberühmte Regisseur des „Panzerkreuzer Potemkin“ schwul war. Wohingegen es sicherlich niemanden überrascht, dass man mit diesem Umstand in seinem Heimatland eher verschwiegen umgeht. Peter Greenaways Biopic mit dem Zungenbrecher-Titel „Eisenstein in Guanajuato“ stellt dessen Homosexualität jetzt ohne jede Zurückhaltung ins Zentrum der Geschichte. Sein langwieriger Aufenthalt in Mexiko Anfang der 30er Jahre, wo er erfolglos versuchte einen Film zu realisieren, wird hier verkürzt auf „zehn Tage, die Eisenstein erschütterten“, wie es im Vorspann heißt. Für das Beben ist weniger das gescheiterte Projekt verantwortlich als seine erste schwule Liebesaffäre mit dem Fremdenführer Palomino, der ihm in der Kolonialstadt Guanajuato die Kultur des Landes näherbringt und ihn mit seinen sexuellen Wünschen konfrontiert. Das ist in der bereits angesprochenen Szene als eine Art Initiationsritus inszeniert: Mitten in dem prächtigen Setting eines riesigen, barock ausstaffierten Hotelzimmers präsentiert Greenaway den besten Arschfick, den das Kino bisher gesehen hat und bei dem es sich abseits der Pornografie auch um den explizitesten handelt. Das ist im Gegensatz zu den meist langweilig cleanen Sexszenen des modernen Schwulenfilms nicht nur ausgesprochen aufregend anzuschauen, sondern auch wunderbar ironisch und symbolgeschwängert. Denn wer hier wen vögelt, wer oben und wer unten liegt, ist keineswegs zufällig und geht auch über den Kommentar zu Russlands Homosexuellenpolitik hinaus. Palomino schwadroniert beim Liebesakt von der Eroberung Mexikos durch das alte Europa, von der Syphilis, dem „Geschenk“ der Mexikaner an ihre Kolonialherren, und dass sich die Neue Welt der Alten jetzt wieder bemächtige. Sex ist bei Greenaway politische Konfrontation: die Verhandlung von Macht und Kolonialismus, nicht versteckt auf der siebenten Metaebene, sondern schön direkt mit dem Holzhammer platziert. 

Das gelingt auch überzeugend, weil der Film über exzellente Darsteller verfügt und visuell zum Atemberaubendsten gehört, was in den letzten Jahren über die Leinwand flimmerte. Greenaway will wie einst Eisenstein das Kino erschüttern. „Ich kämpfe für die Freiheit des filmischen Ausdrucks“, bricht es aus seinem Helden heraus, und für Greenaway ist das mehr als je zuvor Programm. Er feuert mit Bildern, mit Split-Screen, knallenden Farben, digitalen Effekten und einer entfesselten Kamera. Ein Besuch Eisensteins und Palominos auf dem Friedhof, in einem von Mumien gesäumten Museum, wird zu einem einzigen Gespinst aus Licht und Schatten. Sex und Tod, das Aufeinanderprallen europäischer und mexikanischer Kultur – beinahe jede Szene sucht abenteuerlustig nach eigenen Inszenierungsformen für diese Themen. Eine schwule Liebesgeschichte, die nebenbei sämtliche Möglichkeiten des filmischen Erzählens auszuloten versucht: so ambitioniert hat man queeres Kino selten gesehen. Man kann sich Emmerichs „Stonewall“ gerne schenken, „Eisenstein in Guanajuato“ heißt der Homo-Film, den man in diesem Herbst gesehen haben sollte.

Eisenstein in Guanajuato, NL/MEX/FIN/B 2015,  R.: Peter Greenaway, mit Elmer Bäck und Luis Alberti, auf DVD

Folge uns auf Instagram

Das Siegessäule Logo
Das Branchenbuch mit Haltung
Queer. Divers. Überzeugend.