Reportage

Tanz auf der Kippe: Wie sieht's aus am Kotti?

9. März 2016
© Siegessäule

Steigende Gewalt und steigende Mieten bedrohen das fragile Verhältnis zwischen den sozialen Gruppen, doch wer von einem „No-Go-Area für Schwule“ redet, hat den „Kotti“ nicht verstanden

Auf den ersten Blick sieht an diesem Freitagnachmittag der Kotti nicht anders aus als früher, im Gegenteil. Fast zu friedlich für Kreuzberger Verhältnisse. Die Junkies zwischen der Reichenberger und dem Eingang zur U8 sind gerade nicht am Schnorren, sondern in Gespräche vertieft, lautstark, Sterni in der einen, Selbstgedrehte in der anderen Hand. An den Obsthändlern und den kleinen Geschäften vorbei hechtet ein Kamerateam die Treppe hoch zur Ballustrade, die den ersten Stock des Neuen Kreuzberger Zentrums erschließt. Sie drehen für eine ZDF-Serie, der Brennpunkt als Bühnenbild. Von hier oben, mit dem NKZ, diesem gigantischen Mahnmal brutalistischer Stadtplanung im Rücken, hat man den besten Blick auf diesen vielfach zerschnittenen Ort, auf den Hochbahnbahnhof, den zweispurigen Kreisverkehr, auf den halbrunden Flachbau mit den Treppchen davor, die zu den Durchfahrten und Eingängen der Wohnmaschine führen. Wer hier nicht durchhastet, der lungert in den Ecken. Dunkle Gassen, wie gemacht für trübe Gedanken. Alles am Kotti wirkt angefangen und nicht zu Ende gebracht, als hätten Stadtplaner-Kinder mit Modellen gespielt und ein Durcheinander hinterlassen.

Im ersten Stock des NKZ befindet sich das Café am Kotti und von hier genau wurde jenes Handyvideo aufgenommen, das vor ein paar Wochen auch die Aufmerksamkeit der LGBT-Welt auf diesen Ort lenkte. Es zeigt, in wackligen Bildern, zwei Männer, die am frühen Morgen von einer Gruppe arabisch sprechender Jugendlicher verfolgt und offensichtlich geschlagen werden, mit Gürteln, heißt es, aber das ist nicht so genau zu erkennen. Ein rechtspopulistischer schwuler Blog veröffentlichte das Video und erklärte den Kotti kurzerhand zur No-Go-Area für Schwule.

Ercan Yaşaroğlu, Sozialarbeiter und Betreiber des Cafés, bedauert mittlerweile, dass er das Handyvideo, das sein Bruder in jener Schneenacht aufgenommen hatte, online gestellt und weiterverbreitet hat. Nicht, weil er die zunehmende Gewalt am Kotti unter den Tisch kehren will, sondern weil die Macht der Bilder, der Headlines, der Totschlagwörter, kaum noch Platz lässt für den genauen, den differenzierenden Blick. Den aber braucht man am Kotti mit seinen komplizierten, über Jahrzehnte gewachsenen und vielfach verwobenen Strukturen dringender als irgendwo sonst.

Tatsächlich schlägt Ercan und mit ihm viele der Gewerbetreibenden wegen der wachsenden Gewalt schon seit dem letzten Jahr Alarm. Er verweist auf eine lange Liste von Briefen, an den Bezirk, an den Senat, in dem die Anwohner eine staatliche Reaktion auf den Anstieg der Kriminalität fordern. Drei, vier konkurrierende Banden arabisch sprechender Jugendlicher seien es, sagt Ercan, die mit Taschendiebstählen, Handyklau aber auch einer in diesem Ausmaß bisher nicht bekannten Bereitschaft zur Gewalt zum Problem geworden sind. Die Innenverwaltung unter CDU-Senator Henkel leugnete lange diesen Anstieg, verwies stattdessen auf die gezielten Brennpunkteinsätze in Mannschaftsstärke, 29 allein von Januar bis Mai letzten Jahres.

Doch genau das sei die falsche Taktik, heißt es aus dem Grün-dominierten Bezirksamt. Mit solchen Aktionen könne die Polizei zwar auf einen Schlag „viele Stunden schreiben“, an der Situation am Platz aber ändere sich dadurch nichts. Im Bezirksamt vermutet man recht offen, dass Innensenator Henkel im Wahljahr 2016 die Bezirksverwaltung – und vor allem die ihm in inniger Feindschaft verbundene Bürgermeisterin Monika Hermann – am Kottbusser Tor bewusst vorführen möchte. Dafür spricht, dass die über Jahre bewährte Dauerpräsenz des zuständigen Polizeiabschnitts 53 abgezogen und der mit den zahlreichen Initiativen vor Ort sehr gut zusammenarbeitende Dienststellenleiter Neumann versetzt wurde.

Ein Stockwerk unterhalb von Ercans Café sitzt Richard Stein, Mitinhaber des Möbel Olfe, am Tresen der queeren Institution und rührt in seinem Kaffee. „Ab wann ist eine Gewalttat homophob?“, fragt er. „Immer dann, sobald sie einen Schwulen trifft?“ Den Kriminellen auf dem Video sei es um Handy und Geldbörse gegangen, dass ihre Opfer schwul waren – eher ein Zufall. Und dann erzählt er von anderen Vorfällen, einer gerade drei Wochen her, da stürmte ein Dutzend Jungs zwischen 13 und 17, „durchgetickerte Testos“, wie Richard sie grinsend nennt, aus der Nachbarschaft in die Olfe und brüllten „Ey, seid ihr schwul?“ Einige Gäste waren verunsichert und ängstlich, auf einmal waren Polizisten da und haben Personalien aufgenommen. „Später wollte die Polizei, dass das Olfe eine Anzeige erstattet, aber das haben wir abgelehnt: Es kam uns eher vor wie eine Mutprobe pubertierender Kids. Unser Weg damit umzugehen, ist in solchen Fällen ein anderer, wie zum Beispiel in einem Fall vor drei Jahren. Damals setzten wir uns nach einer Anzeige von Gästen mit den drei Jugendlichen zusammen und sprachen über das, was uns miteinander verbindet. Wir sagten ihnen: Überlegt einfach mal, wie es wäre, wenn wir alle zusammen nach Sachsen fahren würden – versteht ihr jetzt, warum wir hier alle am Kotti zusammenleben?“*

Der Kotti, das sind Sedimentschichten der Globalisierung: in den Siebzigern türkische Gastarbeiter; in den frühen Achtzigern linke Hausbesetzer; in den späten Achtzigern dann Schwule und Lesben zusammen mit den ersten Kneipen auf der Oranienstraße und den Feten im SO36; die Junkies wurden angespült, als in den Neunzigern der Bahnhof Zoo auf schick getrimmt wurde; ihnen folgten Osteuropäer. Und während die letzten Neuankömmlinge mit ihrer Bandenkriminalität das fragile Gleichgewicht von unten bedrohen, schaffen steigende Mieten und Verdrängung auch von oben einen Druck auf die lange gewachsenen Strukturen.

Auf der anderen Seite der Hochbahn, im ebenfalls von Richard Stein mitgemanagten Südblock haben diese nachbarschaftlichen Strukturen in den letzten Jahren eine Heimat gefunden. Noch bevor gegenüber des queeren Veranstaltungsorts das „Gecekondu“ entstand, das Protestcamp der von steigenden Mieten und der Invasion der Hipster bedrohten, großteils migrantischen Anwohner, trafen im Südblock ältere Frauen mit Kopftuch auf ihre queeren Nachbarn und beide Seiten waren erstaunt, wie gut sie miteinander auskommen. Jetzt wurde ein Trägerverein gegründet, um in den alten Geschäftsräumen von „Aquarien Meyer“ ein Nachbarschaftszentrum zu etablieren. Diverse Gruppen haben schon Bedarf an Büroräumen angemeldet, zwei Drittel der Fläche sollen flexibel bleiben für wechselnde Veranstaltungen.

Wie jeden Freitagabend macht Richard sich mit anderen Geschäftsleuten und Sozialarbeitern auf zu ihrem wöchentlichen „Kotti-Spaziergang“. Wie stets werden sie sich austauschen, die Lage erörtern, die Nummern ihrer Telefonkette auf den neusten Stand bringen. Im Südblock verleiht die Linke derweil den Clara-Zetkin-Frauenpreis. Die Dämmerung bricht an, Straßenlaternen flackern auf. Mag sein, dass der Kotti tatsächlich gerade auf der Kippe steht, aber vielleicht tänzelt er auch auf ihr, grazil und fragil zugleich. Was er nicht gebrauchen kann, sind Leute, die auf seinen sozialen Problemen ihr politisches Süppchen kochen, was ihn im Gleichgewicht und in Bewegung hält sind Menschen, die unermüdlich an dem Netz weben, das den Kotti und seine BewohnerInnen trotz aller Unterschiede zusammenhält.

Dirk Ludigs

* vom Autor geändert. In einer ersten Version des Textes waren zwei getrennte Ereignisse als eines dargestellt worden.

VERANSTALTUNGSTIPP ZUM THEMA:
Kippt der Kotti? Podiumsdiskussion mit Jana Borkamp, Bezirksstadträtin, Dr. Mark Terkessides, Journalist und Migrationsforscher, Ercan Yasaroglu, Sozialarbeiter und Besitzer des Kotti-Cafés, Tanja Knapp, Leiterin des Berliner Polizeiabschnitts 53, Richard Stein, Möbel Olfe/Südblock, Moderation: Kristine Jaath, Vorsteherin der BVV Friedrichshain-Kreuzberg, 10.03., 19:30, FHXB – Friedrichshain-Kreuzberg Museum

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