Theater

30 Jahre Bar jeder Vernunft: „Tuchfühlung ist Programm.“

13. Apr. 2022 Eckhard Weber
Bild: Xamax

Eine der charmantesten Theaterinstitutionen Berlins feiert in diesem Jahr 30jähriges Jubiläum. SIEGESSÄULE-Autor Eckhard Weber hat sich auf Spurensuche begeben und mit Wegbegleiter*innen der Bar jeder Vernunft gesprochen. Dabei erhielt er auch Antworten auf die Frage, weshalb die Bar jeder Vernunft ein wichtiges Stück queerer Berliner Geschichte repräsentiert

Diese Bühne strahlt weit über die Grenzen Berlins hinaus. Auch die New York Times hat die Bar jeder Vernunft schon zum Hotspot für Kabarett erkoren. Dabei ist das zu tief gestapelt. Das Zelttheater in Charlottenburg ist auch eine der wichtigsten Adressen für Chanson, Show, Musik-Comedy, Varieté, Konzerte und vieles mehr. Außerdem hat die Bar jeder Vernunft epochale Inszenierungen von Musicals und Operetten hervorgebracht. Viele renommierte Künstler*innen gehen hier seit jeher ein und aus, viele sind hier groß geworden. Die „Bar“, wie sie liebevoll von den Künstler*innen genannt wird, ist Experimentierwerkstatt, Talentschmiede, kreative Spielwiese.

Am Anfang war das Zelt. Ein besonderes: ein Jugendstil-Spiegelzelt, das einst in niederländischen und flämischen Seebädern für Bälle und Tanztees diente. Seit nunmehr 30 Jahren ist es aufgeschlagen an einem Standort, der eine typisch spröde Berliner Ecke ist: ein Parkdeck an der Schaperstraße, eingezwängt zwischen Universität der Künste und dem Haus der Berliner Festspiele.

Doch wer ins Zelt mit seinen gut 230 Sitzplätzen mit Tischchen tritt, wird verzaubert. Das kuschelige Ambiente von plüschiger Nostalgie und einem Hauch Luxus im Kleinformat nimmt einen sofort für sich ein. Regisseur Bernd Mottl, der hier 2014 „Ein Käfig voller Narren“ inszeniert hat, findet, dass das Zelt mit seiner Schummerbeleuchtung und den Rottönen etwas von einem Bordell oder einem Nachtclub hat: „Dadurch liegt auch immer ein bisschen Erotik in der Luft. Man sitzt außerdem ja sehr nah beieinander, der*die Nachbar*in fast auf dem Schoß. Tuchfühlung ist da Programm.“

Das gilt auch für die kleine Bühne im Zelt, für größere Produktionen wie Musicals eine echte Herausforderung, aber auch ein Anreiz für die Kreativität. Bernd Mottl: „Dann siehst du, was möglich ist, durch den Kontakt, durch die Nähe zum Publikum.“ Das war auch bei der Inszenierung des Broadway-Hits „Cabaret“ 2004 so, Regisseur und Choreograf Vincent Paterson, der vorher Bühnenshows und Videos von Madonna und Michael Jackson kreierte, brachte sogar die Illusion eines Zugs auf die Bühne. Chansonnier Tim Fischer, seit den frühen Jahren prägender Gastkünstler, mag diese Nähe zum Publikum: „Die Bar ist ein wunderschöner kleiner, feiner Spielort, der es ermöglicht, eine große Intimität zu schaffen. Das hat dann echte Wohnzimmerqualitäten.“

Großkunst statt Kleinkunst

1992 beginnt all dies. Holger Klotzbach, früher Mitglied des Anarcho-Kabarett-Trios „Die 3 Tornados“ und leidenschaftliches Theatertier, hat das Spiegelzelt über seine Beziehungen zur Zirkusszene gefunden. Gemeinsam mit seinem Partner Lutz Deisinger, der Bühnen- und Medienerfahrung mitbringt, gründet er die Bar jeder Vernunft. Die Jazz-Kabarett-Kombo Ars Vitalis lädt zur Eröffnungsshow im Juni 1992. Meret Becker gestaltet damals schon Nachtsalons, die Kultstatus erlangen. Bald sind auch die Geschwister Pfister mit ihrer ersten Produktion „Melodien fürs Gemüt“ dabei. Seitdem gehören sie zum festen Stamm der Künstler*innen.

Zwei Jahre später sorgt die von Christoph Marti aka Ursli Pfister initiierte Produktion „Im weißen Rößl am Wolfgangsee“ überregional für Furore. Die Operette wird hier kräftig entstaubt und auf ihr anarchisches und campy Potenzial abgeklopft, ein Meilenstein für das Genre, lange bevor dies an der Komischen Oper Barrie Kosky im großen Stil startet.

Kein Wunder, dass die Pfisters später auch dort auftreten. Und wo hat Kosky die Pfisters zuerst gesehen? Eben! Sogenanntes Off-Theater und etablierte Mim*innen treffen seit jeher an der Bar jeder Vernunft aufeinander. Hier wird Dinglish-Queen Gayle Tufts berühmt, Maren Kroymann versprüht ihren musikalischen Charme, Georgette Dee und Katherine Merling sind dem Haus seit Langem verbunden, wie auch Sven Ratzke und Susanne „Popette“ Betancor. Nicht zu vergessen die grandiose Katharina Thalbach, die 2008 im Duo mit Andreja Schneider mit der Genderbender-Romanze „Zwei auf einer Bank“ bezirzt. Dass auf dieser Bühne Großkunst statt Kleinkunst stattfindet, macht als Bonmot schon lange die Runde.

Magische Momente unter dem Zeltdach

Die beiden schwulen Gründer Holger Klotzbach und Lutz Deisinger brennen leidenschaftlich für die Produktionen in ihrem Zelt und bringen den Künstler*innen unendlich viel Wertschätzung entgegen. Das vermittelt sich hier überall. Die gute Stimmung springt aufs Publikum über. Schließlich noch die hervorragende Gastronomie! Überall äußert sich der ambitionierte Wunsch, alle Sinne zu erreichen.

„Das Besondere an dem Ort ist die warmherzige Atmosphäre und die echte Gastfreundschaft. Das ist ziemlich einzigartig. Vor allem in einer so grundaggressiven Stadt wie Berlin ist das eine Oase“, schwärmt Regisseur Bernd Mottl. Dies geht auch hinter den Kulissen weiter: Tim Fischer erinnert sich gerne daran, wie nach Vorstellungen „bis in die Puppen“ gefeiert wurde. Bühnenpoetin und Sängerin Cora Frost hat magische Momente nach der Vorstellung unter dem Zeltdach erlebt: „Ich liege in der Mitte des Zeltes auf dem Boden, auch Herr Lutz Deisinger, wir hören einfach dem Regen zu, nach einem wunderbaren Abend. Da kriecht Herr Otto Sander von seinem Platz an der Bar auch noch kurzentschlossen zu uns, und so liegen wir zu dritt auf dem Holzboden des Spiegelzeltes.“

Cora Frost schätzt an der Bar jeder Vernunft, „dass die Queerness nicht behauptet wird, sondern einfach schon immer da war.“ Für Christoph Marti war die Bar vielleicht sogar die Rettung: Als Jungschauspieler hatte er erste Erfahrungen am Schillertheater und der Schaubühne gemacht, deren Programme „durch und durch heteronormativ“ waren, so Marti. Da war er wieder, dieser Druck, der ihm schon bei der Ausbildung eingebläut worden war, er müsse „männlicher“ werden. „Bei Holger und Lutz war das von Anfang an und auf eine sehr entspannte Weise nicht so. Wenn ich diese Erfahrungen an der Bar nicht gehabt hätte, wo ich wirklich sein konnte, wie ich bin, wüsste ich nicht, wo ich heute stehen würde“, sagt Christoph Marti.

Zum 30-jährigen Jubiläum bringen die Geschwister Pfister im April noch einmal ihre erste Show, mit der sie an der Bar gestartet sind: „Melodien fürs Gemüt“. Darin wird die Urgeschichte der Pfisters erzählt. Wie die Schweizer Waisen nach Las Vegas zu ihrem Onkel Bill kommen und dort als Kinderstars den Durchbruch schaffen. Und Meret Becker startet außerdem mehrere Nachtsalons. Der Zauber der queeren Oase wirkt weiter.

SIEGESSÄULE präsentiert
Jubiläums-Reif – Die Geschwister Pfister: Melodien für‘s Gemüt, 13.04., 20:00, 14.–17.04., 19:00,
19.–23.04., 20:00, 24.04., 19:00, 26.–30.04, 20:00, 01.05., 19:00, Bar jeder Vernunft

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