Wolkenfenster: Yoko Tawada liest aus ihren Büchern

Der Kleist-Preis gehört zu den bedeutendsten Literaturpreisen des deutschen Sprachraums. Dieses Jahr wird er am 20. November der lesbischen Autorin Yoko Tawada verliehen. Einen Tag vorher liest sie im LCB
Der Blick in Yoko Tawadas Kalender eröffnet schwindelerregende Dimensionen, nicht unähnlich dem Tourneeplan eines Rockstars: Indien heute, Kalifornien morgen, Japan gefolgt von Brüssel, Paris und Oslo. Dass da im November überhaupt noch Berlin hineinpasst, scheint wie ein Wunder. Und doch wird der japanischen Schriftstellerin dort, an dem Ort, den sie seit vielen Jahren ihre Heimat nennt, am 20. November der renommierte Kleist-Preis verliehen.
Ihre Verlegerin Claudia Gehrke erinnert sich im Gespräch mit SIEGESSÄULE an eine frühe Begegnung mit Yoko Tawada Mitte der 80er-Jahre, bei der ihr diese erklärte, das chinesische Schriftzeichen für Körper sei zusammengesetzt aus den Zeichen für Mensch und Buch. „Diese Bemerkung hat es dann auch in ihre erste Veröffentlichung bei mir geschafft. Die Entdeckung des Körpers ist dem Entdecken eines Buches ja ganz ähnlich, und dieser Topos des Umblätterns ist ebenfalls das Aufregende beim Lesen, wenn wir noch nicht wissen, was uns in einem Buch erwartet.“ Die Entdeckung Tawadas geht auf eine Begegnung von
Gehrkes ehemaligem Verlagspartner, dem Japanologen Peter Pörtner zurück, der sie Claudia Gehrke vorstellte. „Er las mir ein Gedicht von ihr vor, das mich sofort überzeugte, und kurz danach saß sie mir in einem Hamburger Café gegenüber mit einem selbst gebastelten Buchentwurf für ihr Erstlingswerk, das wir dann ganz ähnlich auch so umgesetzt haben“, erzählt die Verlegerin.
Yoko Tawada ist heute bekannt für witzigironische Darstellungen von Alltagserfahrungen des gegenseitigen Nichtverstehens, für spitze Beobachtungen kultureller Missverständnisse und für ihre Fähigkeit, das Falschverstehen als Potenzial eines neuen Verständnisses der Welt zu nutzen. Für ihr Schreiben ist das Reisen, das Unterwegssein, essenziell, die Bewegung ein wesentlicher Bestandteil ihrer Texte. Zur Frankfurter Buchmesse erschienen nun zwei neue Bücher Tawadas, in denen sie die Sprache und ihren Einfluss auf das Leben der Menschen und deren Kultur erkundet – einerseits in einfühlsam beobachtenden Essays in „akzentfrei“, andererseits in poetischer Prosa in dem Roman „Balkonplatz für flüchtige Abende“. Zwei Bücher, die sich in die Thematik von Yoko Tawadas Werk einreihen und doch neue, zuvor unbeachtete Eindrücke aufnehmen und Überlegungen anstellen.
Die Jury des Kleist-Preises begründet ihre Wahl damit, dass die 56-jährige Autorin in ihren Gedichten, Romanen, Theaterstücken und Essays „eine ganz originäre Schreibweise entwickelt“ habe. Ihre Sprache sei von großer Schönheit und erotischer Spannung.
Als Yoko Tawada 2012 den japanischen Yomiuri-Literaturpreis erhielt, erklärte sie in ihrer Dankesrede: „Um an dieser Preisverleihung teilzunehmen, kam ich gestern aus Berlin hierhergeflogen. Aus dem Fenster des Flugzeugs sah ich Wolken, und so wie im Titel meines Romans („Kumo wo tsukamu
hanashi“, Anm. d. Red.) wollte ich nach den Wolken greifen, aber ich konnte leider das Fenster nicht öffnen. An sicheren Orten, wo man Fenster öffnen könnte, kann man meistens keine Wolken greifen. Ich aber möchte weiter meine Hände nach den Wolken ausstrecken, denn es reicht mir nicht, nur einen Blick darauf zu werfen.“
Sonya Winterberg
Yoko Tawada liest aus ihren neuen Büchern, 19.11., 17:00, Literarisches Colloquium Berlin (LCB)
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