„Lass dir helfen, bevor du stirbst“

Der Bassbariton Seth Carico singt in der Neuinszenierung von Benjamin Brittens „Death in Venice“ gleich sieben Partien. Im Interview mit SIEGESSAEULE.DE erklärt er, was es damit auf sich hat
In der Neuinszenierung von Benjamin Brittens „Death in Venice“ an der Deutschen Oper Berlin übernimmt der Bassbariton Seth Carico sieben Partien. Im Interview mit SIEGESSAEULE.DE erklärt er, was es damit auf sich hat.
Seth Carico, worum geht es in „Death in Venice“: Um eine Midlife-Crisis? Um einen alten Mann, der heftig für einen Jugendlichen schwärmt? Um einen Lebensmüden, der Venedig sehen und sterben möchte?
Verlorene Jugend ist ein Hauptthema in der Geschichte. Und der Wunsch nach persönlicher Balance. Um ein ausgeglichenes Leben zu haben, sollte man alle Seiten, die man hat, akzeptieren. Das ist auch beispielsweise so bei Männern, die jahrelang versuchen, ihre natürliche Neigung für andere Männer zu verleugnen. Man kann auf diese Weise kein erfüllendes Leben haben. Es ist sehr traurig, wenn man an einen Punkt kommt, wo man sich eingestehen muss, dass man einen wesentlichen Teil von sich selbst unterdrückt hat und dies einen unglücklich gemacht hat.
Wie zeigt sich das genau bei Aschenbach, der Hauptfigur?
Aschenbach hat sein ganzes Leben harter Arbeit gewidmet, mit sehr viel Disziplin. Er hatte unglaubliche Erfolge in seinem Leben, ist zu einem bedeutenden Schriftsteller geworden. Aber jetzt wird er damit konfrontiert, was er verpasst hat, was ihm fehlt. Und er merkt, er hat sich selbst die Möglichkeit versagt, eine wirkliche Jugend zu haben, ein Leben mit Leidenschaft, Familie, Freunden, Liebe. Er hat darüber geschrieben, aber er hat diese Dinge nie selbst real erfahren.
Seth, du singst die zweite Hauptpartie in der Oper, die in sieben einzelne Partien aufgeteilt ist: Der Reisende, der alte Geck, der Gondoliere, der Hotelmanager, der Friseur, der Straßenmusiker, die Stimme des Dionysos. Sie werden oft als „Todesboten“ bezeichnet. Was steckt dahinter?
Man kann natürlich die sieben Partien, die ich singe, als Ausprägung von etwas Dunklem, Zerstörerischem sehen. Aber wir haben während der Proben herausgefunden, dass diese Figuren auch als wohlwollende Kräfte betrachtet werden können. Meine Figuren sind ja dem Dionysischen zugeordnet, dem Rauschhaften, Ekstatischen, Sinnlichen. Aus Aschenbachs vorheriger Perspektive ist die Kraft des Dionysos etwas Schlechtes. So hat er sein ganzes vorheriges Leben geführt. Er lebte nach den Prinzipien des Apollonischen, strebte nach Disziplin, Ordnung, Kontrolle und makelloser Schönheit. Meine Figuren signalisieren Aschenbach: Dir fehlte all das Dionysische, lass dir helfen, bevor du stirbst.“ Deshalb sind diese Figuren weniger Versuchungen als vielmehr Lotsen zu etwas Neuem.
Britten hat alle diese Figuren in seiner Partitur ja bewusst für einen Sänger geschrieben …
In der Produktion unterstreichen wir dies noch stärker. Es wird nicht die herkömmlichen Kostümwechsel für diese sieben Figuren geben. Wie wir diese unterschiedlichen Charaktere darstellen, das bleibt noch ein Geheimnis. Doch allein schon die Art, wie die Musik komponiert ist, hilft bei der Unterscheidung der einzelnen Figuren. Jede ist musikalisch anders charakterisiert: Die Gesangslinie des Reisenden vom Anfang der Oper zum Beispiel ist ein ruhiges Strömen, legato, sehr konzentriert, dunstig, schwül und passt zu den tropischen Bildern, die an dieser Stelle im Libretto angedeutet werden. Der Gesang des alten Gecken dagegen ist sehr aggressiv und funkelnd, schnell, wendig, fast wie eine Broadway-Partie. Die Partie des Gondoliere ist wie ein Wiegenlied, passt zum Wogen der Wellen, wirkt hypnotisch. Der Hoteldirektor hat Grandezza in seiner Partie. Sein Gesang ist üppig, glänzend, perlend, lukullisch, klangsinnlich.
Das bedeutet eine ziemliche Herausforderung für dich als Sänger …
Ich hatte einen großartigen Gesangslehrer, der mich als Bassbariton zum Beispiel auch in Falsettgesang ausgebildet hat. Das kommt mir etwa bei dem alten Gecken zugute. Als Jugendlicher habe ich außerdem Broadway-Repertoire gesungen. Beim Sänger der Musikantengruppe zum Beispiel habe ich den Eindruck, dass ich sogar das Belting einsetzen könnte, wie das im Rock und in Musicals gemacht wird. Es soll in dieser Partie auch ein bisschen dreckig und naiv wirken. Angesichts dieser unterschiedlichen Gesangsstile, mit denen ich im Verlauf der Jahre Erfahrungen gemacht habe, ist „Death in Venice“ das ideale Stück für mich.
Wie gelingt es dir aber auf der Bühne, schnell und flexibel zwischen den Charakteren zu wechseln?
Das ist gerade die Kunst, der Kern meiner Arbeit an diesen Partien. Es ist vor allem auch eine Herausforderung, mit der körperlichen Präsenz zwischen den Charakteren zu wechseln, wenn ich auf der Bühne bleibe und nicht zwischendurch abgehe. Es ist vielleicht ein merkwürdiger Vergleich, aber als Student habe ich in Tennessee als Barkeeper gearbeitet: Jeder Gast, der an einer Bar reden möchte, und das sind viele, sieht im Barkeeper eine andere Person: Manche wollen einen Spaßmacher oder jemanden, mit dem sie über Sport plaudern. Manche hatten einen schweren Tag und möchten dies an der Bar loslassen. Manche möchten eine Art Therapeuten haben. Oder einen Vertrauten, bei dem sie ihr Herz ausschütten können. Ich habe den Eindruck, ein großes Stück meiner Aufgabe in diesem Stück besteht darin, Aschenbach zu beobachten und zu spüren, was er gerade nötig hat. Braucht er im Moment die Party-Jungs mit dem alten Gecken, um einen neuen Anreiz zu erhalten? Braucht er jetzt den Gondoliere, um sich zu beruhigen? So gehe ich von einem zum anderen Charakter.
Die Handlung spielt, wie die literarische Vorlage der Oper von Thomas Mann, in der Belle Époque. Da bietet sich natürlich eine schwelgerische Ausstattungsorgie an, wie es der schwule Filmregisseur Luchino Visconti in seiner berühmten Verfilmung von Manns Novelle, in „Morte a Venezia“ aus den 70er Jahren, gemacht hat. Gibt es so etwas auch in eurer Inszenierung an der Deutschen Oper?
Nein. Unsere Inszenierung ist weniger wie der Visconti-Film, der die Geschichte ja sehr aus der Perspektive des Fin de siècle, der Epoche Thomas Manns, erzählte. Die ganzen Venedig-Bilder, Kanäle, Gondeln, das ist alles nicht nötig, um den Inhalt der Geschichte zu verstehen. Es wird trotzdem alles klar. Als jemand, der als Mittelklasse-Junge in Tennessee aufgewachsen ist, kann ich mich nur wenig mit einem wohlhabenden deutschen Schriftsteller identifizieren, wie Aschenbach bei Thomas Mann gezeichnet wird. Ich kann zwar die Schilderung als großartiges Kunstwerk würdigen, aber für mich hat die Handlung eine viel größere psychologische Bedeutung, wenn man sie aus diesem historischen Rahmen löst. Dann kann man viel deutlicher ihre universelle Wahrheit zeigen.
Interview: Eckhard Weber
Benjamin Britten: Death in Venice, Deutsche Oper Berlin
19.3., 18 Uhr (Premiere), 22. + 25. 3., 19.30 Uhr
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