Politik

Ein Mann sieht rot: Bundestagspräsident Lammert hält selbst die bisherigen LSBTI-Rechte für „höchst umstritten“. Hat noch jemand Rosa Winkel?

9. Juli 2013
Fotomontage unter Verwendung Deutscher Bundetag / Creative Common

„Die Welt“ ist nicht gerade bekannt als publizistische Fackel der Liberalität, aber dass sie sich für einen derartig durchsichtigen Wahlkampf-Coup wie das Interview mit Parlamentspräsident Norbert Lammert hergibt, wer hätte das gedacht? Und wer hätte gedacht, dass im Jahr 2013 ein Bundestagspräsident kaum verhüllte Drohungen gegen Schwule und Lesben ausstößt, ihnen ihre bisher immer noch kläglichen Rechte wieder zu entziehen. Was kommt denn nach dem Bürgerrechtsentzug? Meldepflicht für Homosexuelle? Isolationslager? Da muss man gar nicht bis in die Nazizeit zurückdenken, das mit den Lagern hatte schon Kollege Gauweiler während der HIV-Krise vorgeschlagen.

Der Reihe nach, Eingang Interview, im Film wäre das der Prolog: Im Bundestag „herrscht“ Ruhe, die Abgeordneten sind schon alle im Urlaub. Einsam wacht Lonely Lammert. „Später muss er sich auf eine Dienstreise nach Tschechien vorbereiten. Das Amt lässt noch keine Ferien zu“ - Was für ein Heldensound.

Rein offiziell steht er als Bundestagspräsident über der Bundeskanzlerin, inoffiziell ist er dafür da, während Bundestagssitzungen die Meute der Abgeordneten einigermaßen im Zaum zu halten. Diesen Job teilt er sich mit seinen StellvertreterInnen, je Fraktion eine oder einer. Im Grunde ist der Posten des BuTaPrä so eine Art rotierendeR KlassenlehrerIn. JedeR hat da einen eigenen Stil. Karin Göring-Eckardt etwa wirkt meist wie eine wohlwollende, leicht genervte Reformpädagogin, Hermann Otto-Solms spielt den überkorrekten Beamtenadel. Und dann gibt es in der Lehrertypologie noch diesen: den hochintelligenten Physiklehrer, der aus jeder Stunde eine Show macht. Da ist der Wille zum Humor und zum Esprit – aber er ist eben doch nur der Physiklehrer und nach dem dritten Bonmot rollen alle genervt mit den Augen: Er nu wieder! So wirkt Lammert.

Lammert sei ein Besuch im Schwulen Museum anempfohlen, er hat ja jetzt genug Zeit in der Sommerpause

Schlimm wird’s, wenn diese Gattung mehr will. Wenn die sorgsam verborgene Aggression dann mal herausbricht. Zum Einzelkämpfer mutiert, zum Revolverheld. Ja, als Abgeordneter darf Lammert natürlich seine Meinung sagen – aber als Bundestagspräsident hat er eine Aufgabe – und die besteht darin, die politische Diskussion in geordneten Bahnen zu halten. Er hingegen feuert lieber die Schläger auf dem Pausenhof an. „Die Einführung einer rechtlichen Lebenspartnerschaft unter Rot-Grün war im Bundestag hochumstritten. Die parlamentarischen Mehrheiten von damals gibt es heute nicht mehr.“ (Lammert, Welt) Aha, das, was damals angeblich schon „hochumstritten“, würde heute niemand mehr unterschreiben? Noch deutlicher kann ein Politiker kaum sprechen.


Lammert sei ein Besuch im Schwulen Museum anempfohlen, er hat ja jetzt genug Zeit in der Sommerpause. Dort kann er Relikte betrachten aus einer Zeit, als Rechte für Schwule und Lesben so schön unumstritten, weil kein Thema waren. Da sei auch mal angemerkt, wie es sich wohl in den Ohren älterer Schwuler und Lesben anhört, wenn der zweithöchste Politiker im Land ihre Rechte in Zweifel zieht. Vielleicht haben sie ja den Rosa Winkel noch ganz tief im Schrank versteckt, für Lammert-Zeiten – wenn ihre Rechte als Menschen und Bürger mal wieder „umstritten“ sein sollten. Schämen Sie sich, Herr Lammert!

Und auch die Welt, die sich in den letzten Jahren gelegentlich herabließ und überraschend positiv Stellung bezog gegenüber Schwulen und Lesben, scheint einen Rollback in die gute alte Zeit zu erleben: In der Adoptionsfrage würde „Karlsruhe zwangsläufig der Regierung ein Gesetz diktieren“, suggeriert die Fragestellung an Lammert in schönster Propaganda. Ja, schon klar, liebe Welt, was da mitschwingt: Karlsruhe besetzt den Bundestag und „diktiert“? Da werden gruselige Erinnerungen wach, befinden wir uns mental wieder bei der Dolchstoßlegende?

Der Biedermann gibt den Brandstifter – ein unwürdiges Spektakel!

Es ist ein gefährliches Spiel, dass die Welt und der Lammert hier spielen. Mit der Infagestellung der bisherigen (oft halbherzig gewährten) Rechte für Schwule und Lesben beweist Lammert jedenfalls, dass er bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen. Wer hätte das gedacht: Ein Physiklehrer sieht rot. Das Lehrerkollegium sollte schnellstmöglichst einschreiten. Aber die sind ja im Urlaub. Ist der Zeitpunkt nicht etwas feige gewählt, Herr Lammert?

Ein allzu durchsichtiges Manöver: „Im Felde unbesiegt“ lautet die Botschaft an die letzten Getreuen. Und „unser Kampf geht weiter“. Erika Steinbach, Katharina Reiche, Volker Kauder und Norbert Lammert geben die vier apokalyptischen Reiter. Auf dass die Volksseele endlich koche. Der Biedermann gibt den Brandstifter – ein unwürdiges Spektakel!
Christian Mentz

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