ESC

Beth Ditto auf LSD oder Beyoncé light: Der Eurovison Song Contest 2018

13. Mai 2018
Bild: © Dewayne Barkley, EuroVisionary, CC BY-SA 4.0
Netta Barzilai, die Gewinnerin des ESC 2018 © Dewayne Barkley, EuroVisionary, CC BY-SA 4.0

Beim ESC gewinnt Diversity-K-Pop aus Israel. Nervtötend und großartig! Unser Autor Sascha Osmialowski war live dabei, zwischen Schweden in bauchfreien Glitzertops und Käsemädchen aus Holland

Wow. Zwei Bierbars für 8.000 Zuschauer. Die Schlangen schier endlos. Wie soll ich diesen Abend überstehen? Auch für einen Eurovisionsfreak wie mich ist so ein Abend nüchtern eine absolute Herausforderung, 26 Lieder können sehr lang sein. Zielvorgabe: 0,6 Promille spätestens beim serbischen Beitrag (Startnummer 10) Es ist Samstagabend, fünf vor acht (hier in Portugal ist man eine Stunde früher dran), und ich bin im Homohimmel. Also fast frontal vor der Bühne der Altice Arena, eingequetscht zwischen muskulösen Schweden in bauchfreien Glitzertops, besoffenen Dänen mit Stoffhühnern auf dem Kopf und vier Käsemädchen aus Holland, zwei davon mit Vollbart.

Ich bin Fan seit Kindertagen. Der ESC ist der Gay Pride des Cheesy Pop. Um mich rum gut gelaunte Menschen aus Brighton, Melbourne, Thessaloniki, Aarhus, Tallin und Eschweiler. Meist schwul. Lissabon war schon die ganze Woche eine Homohochburg. Flirty, funny, chatty. Grindr muss explodiert sein denke ich. Aber ich weiß auch: Für Sex hat keiner Zeit, überall Partys, Meet & Greets, Empfänge. Eurovision ist nur einmal im Jahr, Sex kann warten. Wer will schon ficken, wenn man ein Selfie mit einer unbekannten slowenischen Rapperin haben kann?

Zwölf Rechner, drei Handys, viel Geduld und noch mehr Glück in der Online Ticketschlange hat es gebraucht, um an eines der Finaltickets zu kommen. 125 Euro für vier Stunden Vor-Ort-Unterhaltung mit Songs, von denen es (zurecht) kaum einer in die Charts schaffen wird. Das muss man wollen. Ich will das. Jedes Jahr. Unbedingt. Die ganz verrückten im Golden Circle haben 250 berappt. Dafür verkokeln ihnen die Nasenhaare, wenn beim ungarischen Hard-Rock-Beitrag die Pyro aus der Bühne schießt. Dichter geht nicht. Geil. So viel Geld für so banale Musik. Sind wir verrückt? Ja klar.

Es geht los. Das Licht geht aus, die Eurovisionshymne erklingt. Da ist es wieder, dieses Kribbeln im Bauch. Ist es Vorfreude - oder war einfach dieser Trockenfischfrikadellensnack vorhin keine gute Entscheidung? Bier weg-exen, Arme hoch, Fahne wedeln – vielleicht kommen wir irgendwann ins Bild und meine Freunde texten auf facebook, sie hätten mich im Fernsehen gesehen.

Die Portugiesen haben sich Mühe gegeben, auch wenn es keine LED Wände gibt, der Anheizer in der Halle nicht lustig, sondern penetrant ist, und die Bühnenkonstruktion klemmt. Technisch ein Schritt zurück in die 90er. Trotzdem: 20 Millionen kostet die Show. Eine teure Produktion für billigen Pop. Immerhin war Geld für vier Moderatorinnen im Budget. Wozu man die braucht weiß niemand.

Der Ukrainer wird aus einem Sarg katapultiert, die Estin schreit eine MiniOper im Holokleid, die Gruppe aus Moldawien hüpft aus einer Schrankwand. Da fällt fast gar nicht auf, dass der Britin ein Flitzer mitten im Beitrag das Mikro klaut. SuRie sieht zwar aus wie Annie Lennox, ihr Song ist aber eine Schande für das Königreich der Popmusik. Überhaupt ist es ein Abend der Kopien, ich komm mir vor wie bei „Stars in Concert – ESC Edition“: Schweden schickt Justin Bieber für Arme, der Niederländer klingt wie Bon Jovi. Alexander Rybak aus Norwegen hat schonmal gewonnen. Inzwischen denkt er, er sei der Bruno Mars Skandinaviens. Weit gefehlt. Westeros - ach nee Dänemark - schickt eine Boyband von den Eiseninseln. Der Winter naht. Kunstschnee fällt. Den Jurys läuft es eiskalt den Rücken runter.

Die Sängerin der Bulgaren hat ihren Look ganz billig bei Lady GaGa geklaut. Der Schulboy aus Tschechien ist schon 32, aber sein Po kommt gut im Fernsehen. Der NDR schickt Michael Schulte - den deutschen Ed Sheeran. Die Inszenierung sitzt. Kommt trotzdem nicht in meine Playlist. Ich will tanzen. Die Favoriten kommen am Schluss: Netta aus Israel sieht aus wie Beth Ditto auf LSD. Durchgeknallt. Einzigartig. Nervtötend. Großartig. Zypern hat sich mit der rattenscharfen Eleni einen Superstar aus Griechenland eingekauft. Die macht schamlos auf Beyoncé. Die Bühne steht in Flammen. Extensions fliegen durch die Luft. Die Masse tobt. Dieser Song wird uns in sämtlichen Großraumdiskotheken des Mittelmeerraums verfolgen.

So, jetzt noch das Pausenprogramm überstehen (kommt Fado eigentlich von fade?) und voten voten voten. Das kann man gut mit Pinkeln und „noch mehr Bier holen“ verbinden. Die Jurys sehen Österreich vorne. (Was war das nochmal?) Das Voting ist spannend wie nie, Schweden und der Ösi fallen in der Zuschauergunst durch. Der Deutsche landet mit seiner Ballade sensationell auf Platz 4. Jetzt geht’s: Israel oder Zypern? Beth Ditto 3.0 oder Beyoncé light. Jerusalem oder Nikosia. Winkekatze oder Schüttelmähne.

Sie hat’s! Netta!! Toy!!! Die Hühnchendänen neben mir rasten völlig aus. Irgendjemand küsst mich. Und dann noch jemand. Alles voller Glitzer. Ich krieg kaum noch Luft. Der ESC ist vorbei. Es war schlimm. Nächstes Jahr wieder? Unbedingt!

Sascha Osmialowski

Netta "Toy", Performance beim ESC-Finale

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Sascha Osmialowski beim ESC 2018 in Lissabon

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