„Die Angst ist die größte Wirkung des Gesetzes” – ein Interview zur aktuellen Situation von LSBTI in Russland und der Rolle der westlichen Länder

Am Samstag (31.8.) startet die „Enough is Enough“ - Demonstration in Berlin (alle Infos hier). Die Demo richtet sich gegen die Menschenrechtsverletzungen, unter denen Lesben, Schwule und Trans*Personen in Russland leiden. Wie die dortige Situation für LSBTI aktuell ist, und welche Rolle das Ausland für die Verbesserung – oder auch Verschlechterung – der Situation spielen kann, erklärt Wanja Kilber von der Berliner Menschrechtsgruppe Quarteera e.V.
Wanja, im Internet kursiert gerade eine Meldung, dass russische Stellen per Flugblatt dazu auffordern, homosexuelle Nachbarinnen den Behörden zu melden. Die Quellen wirken etwas dubios, es ist unklar, ob die Flugblätter wirklich von Seiten der Regierung kommen. Wie schätzt ihr das ein?
Diese Meldungen haben wir gesehen. Wie auch viele lesbische und schwule AktivistInnen in Russland versuchen wir seit Tagen, dem auf den Grund zu gehen. Wenn man die Telefonnummer anruft, die man laut Flugblatt für Meldungen von Homopropaganda nutzen soll, gelangt man zu einer Firma, die mit dem Aufruf nichts zu tun hat. Die Echtheit dieser Flugblätter ist also anzuzweifeln.
Dennoch leben Homosexuelle, egal ob alleinstehend oder in lesbisch-schwulen Familien, mit oder ohne Kindern, verstärkt unter Angst, seit es dieses Gesetz gegen „Homopropaganda“ gibt. Sie haben Angst denunziert und angezeigt zu werden, von Ihren Nachbarn oder Arbeitskollegen. Oder auch durch extremistische Organisationen, die im Internet agieren. Wir kennen ja die Meldungen von homophoben Jugendbanden, die sich im Internet als homosexuell ausgeben, um Homosexuelle kennenzulernen. Und diese dann zu denunzieren, zusammenzuschlagen, mit Urin zu übergießen, das alles zu filmen und ins Internet zu stellen.
Es gibt auch Fälle, in denen lesbische Familien von Unbekannten bei den Behörden gemeldet wurden. Zwei Freundinnen von mir bekamen Besuch von russischen Jugendbehörden, die wissen wollten, ob die beiden Frauen ihre Kinder wie zwei Mütter erziehen, ob die Kinder ohne Väter erzogen werden. Die Behörden unternahmen nichts, haben aber gedroht wiederzukommen. Es gab dann eine sehr homophobe Diskussion zu dem Fall, hauptsächlich in Elternforen im Internet. Die Frauen hat das letztlich dazu gezwungen, das Land zu verlassen und in Europa Asyl zu suchen.
Im schlimmsten Fall würden den Frauen die Kinder weggenommen werden?
Nein, dazu gibt es keine rechtliche Grundlage. Noch nicht: Die Duma-Abgeordnete (Die Duma ist das russische Parlament, Anm.d.R.) Yelena Mizulina hat vor kurzem kundgetan, sie arbeite an einem Gesetz, das erlauben wird, Kinder aus gleichgeschlechtlichen Familien wegzunehmen.
Das „Gesetz gegen Homopropaganda“ löst große Angst aus, es ist also sehr mächtig …
Ja, die Angst ist wahrscheinlich die größte Wirkung des Gesetzes. Es hat innerhalb von wenigen Monaten dieses Klima der Angst und der Selbstzensur im Lande verbreitet. Das alles geschieht aber ohne eine einzige juristische Anwendung des Gesetzes. Das Gesetz – und das wissen die wenigsten in Russland und auch im Westen – wurde noch nie angewendet. Es gibt keine einzige Verurteilung. Es gibt nur einen Fall von einem Mann, der jetzt auf die Verurteilung nach dem Gesetz wartet. Er hatte vor einer Kinderbibliothek ein Plakat mit dem Satz „Homosexualität ist normal“ hochgehalten. Er wartet jetzt auf die Verurteilung, er wollte diese auch erzielen, damit er vor den Europäischen Gerichtshof in Straßbourg gehen kann. Alle anderen Verurteilungen oder Festnahmen von LSBTI-AktivistInnen geschahen nicht aufgrund des Propaganda-Gesetzes, sondern weil sie zum Beispiel eine Straße nicht auf dem Zebrastreifen überquert haben. Lauter absurde Verurteilungen, aber für Putin scheint es bequemer zu sein, denn so gibt es weniger internationales Aufsehen. Dazu muss ich leider sagen, dass die Selbstzensur jetzt auch in Europa und Amerika Wurzeln geschlagen hat.
Du sprachst auch schon an anderer Stelle von dem vorauseilenden Gehorsam westlicher Institutionen.
Der Fall ist ja bekannt: Einige schwedische Sportlerinnen hatten sich bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Russland solidarisch mit LSBTI gezeigt. Eine der Sportlerinnen hatte ihre Fingernägel in Regenbogenfarben lackiert. Als sie ein zweites Mal so auftreten wollten, hat ihnen der Internationale Leichtathletikverband das verboten, mit der Drohung sie von den Spielen auszuschließen. Dieses Verbot begründete der Verband damit, dass man nicht gegen die Gesetze des Gastgeberlandes protestieren darf. Das ist absurd und zynisch, denn eigentlich sprechen sich diese Sportverbände für Gleichstellung aus. Nicht mal Putin hat es bisher geschafft den Regenbogen zu verbieten, aber die westlichen Sportverbände, die ach so schwulen- und lesbenfreundlich tun und eigene SportlerInnen zum Coming-out bewegen wollen, beugen sich dem Putischen Willen. Sie machen sich zu seinen Handlangern. Das ist eine Schande und wir alle sollten den Deutschen Olympischen Sportbund verpflichten, LSBTI-Menschen zur Seite zu stehen. Das ist das mindeste, was Deutschland den Lesben und Schwulen, den eigenen, aber auch den russischen SportlerInnen schuldet. Wenn wir aus der eigenen Geschichte etwas lernen möchten. Wenn wir an die olympischen Spiele 1936 denken. Selbst wenn da nicht direkte Parallelen gezogen werden können, so gibt es doch sehr viel Stoff zum Nachdenken.
Am Samstag ist die Enough-Is-Enough-Demo in Berlin. Wie werden solche Veranstaltungen in Russland wahrgenommen?
Der weltweite Protest der empörten Lesben und Schwulen stellt Putin in ein ziemlich schlechtes Licht. Ich glaube, Putin hat damit nicht gerechnet, dass er mit diesem Gesetz derart blamiert wird und er auf so viel weltweiten Widerstand stoßen würde. Dass jetzt jedes seiner internationalen Treffen dazu genutzt wird, die Rechte von Schwulen, Lesben und Trans*menschen zu thematisieren - das „geht ihm schon auf die Nerven”, so Putin selbst. Wir sollten da nicht ablassen ihm auf die Nerven zu gehen und weiter demonstrieren. Enough is enough!
Wie steht Quarteera zu der Überlegung, die Olympischen Spiele in Sotchi zu boykottieren?
Wir wissen um die mediale Wirkung eines Boykottaufrufes und schätzen diese. Aber realistisch ist ein Boykott nicht. Alle russischen LSBTI-Organisationen wie „Coming Out St Petersburg“, „Gay Pride Moskau“, „Gay Pride St Petersburg“, das lesbisch-schwule Filmfestival „Side by Side“ , der Verband der lesbisch-schwulen Trans*-Sportlerinnen in Russland – sie alle haben sich gegen ein Boykott der Olympischen Spiele ausgesprochen. Die einzelnen Meinungen kann man in unserer Stellungsnahme nachlesen, aber kurz zusammengefasst: Die Olympiade sollte nicht boykottiert, sondern als Chance genutzt werden, intensiv für Menschenrechte einzutreten. Ein Boykott würde die Falschen bestrafen, nämlich die SportlerInnen. Wir können aber von hier aus die deutschen Politiker, die Sponsoren, die Sportverbände zur Verantwortung verpflichten. Sie sollen auch hinter den eigenen SportlerInnen und Fans zu stehen, die in Sotschi Courage zeigen und gegen Diskriminierung protestieren.
Es wird oft diskutiert, ob bei den Protesten im Westen nicht auch eine Überheblichkeit zum Ausdruck kommt, nach dem Motto: Der entwickelte Westen demonstriert gegen das rückständige Russland. Was sagst du dazu?
Der Westen zeigt sich solidarisch, und diese Solidarität bedeutet sehr viel für Menschen in Russland. Da heißt es natürlich auch für uns: Die Augen aufmachen und sehen, was vor der eigenen Haustür passiert. Oft bleibt dieser Zusammenhang jedoch in einem kleinen Satz versteckt nach dem Motto „Es ist ja bei uns auch noch nicht alles in Ordnung, aber ...“. Vor der eigenen Haustür verbietet gerade der deutsche Olympische Sportbund jegliches Demonstrieren gegen Homophobie bei der Olympiade. Ganz nach dem putinschen Muster. Dagegen können wir schon an diesem Samstag was tun.
Interview: Christian Mentz
Info:
Quarteera e.V. eine deutsch-russische Menschrechtsgruppe von russischsprachigen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Quarteera tritt ein für Vielfalt und Akzeptanz und gegen Diskriminierung, Intoleranz und Heteronormativität, der Verein sieht seine Aufgabe darin, die mehrfache Benachteiligung von russischsprachigen LGBT, der sie als Nichtdeutsche und als LGBT ausgesetzt sind, in der Öffentlichkeit bewusst zu machen und dieser entgegenzuwirken.
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